Unruhen in Frankreich:"In unseren Schulen herrscht Apartheid"

Die Unruhen seien ein Ausdruck des dramatischen Scheiterns der französischen Integrationspolitik, sagt Michel Wieviorka. Der Soziologe und Gewaltforscher erklärt, warum sich ein Jahr nach den Krawallen in der banlieue noch immer nichts geändert hat.

Alex Rühle

Michel Wieviorka ist Professor an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris. Von ihm erschien zuletzt "Die Gewalt" (Hamburger Edition, 2006).

Unruhen in Frankreich: Michel Wieviorka

Michel Wieviorka

(Foto: Foto: Editura Humanitas)

SZ: Herr Wieviorka, vor einem Jahr sagten Sie, dass die Unruhen eine der Zäsuren der französischen Nachkriegsgeschichte seien, vergleichbar mit dem Algerien-Krieg oder dem Mai 1968.

Michel Wieviorka: Rückblickend stimmt das nicht, denn die Unruhen sind folgenlos geblieben. An die Aufstände wird man sich nur erinnern als einen gewaltsamen Ausdruck für das dramatische Scheitern unserer Integrationspolitik, die sich seither kaum geändert hat. Der Rassismus der Polizei, die Ghettostädte, die Diskriminierung, das besteht alles weiter fort.

SZ: Wurde den Franzosen erst durch das ausländische Echo die Schwere der Ausschreitungen bewusst?

Wieviorka: Das Gefühl, dass da etwas passiert, das über die übliche Randale hinausgeht, kam erst spät. Vielleicht wollte man davon so lange nichts wissen, weil diese Unruhen vor allem zeigten, dass die Eliten ihren Diskurs nicht mehr aufrechterhalten können. Das tönende Gerede von der einen unteilbaren Republik, dieser Diskurs kann seine Versprechungen seit Jahrzehnten nicht mehr halten.

SZ: Sind die Unruhen also vor allem Symptom einer sozialen Krise?

Wieviorka: Ja, Symptom der Krise der republikanischen Institutionen. Wenn Sie eine Schule betreten, steht da "Liberté, Egalité, Fraternité". Wenn ein Jugendlicher in Clichy in seine Schule kommt, weiß er, die liberté wird er haben, aber Gleichheit und Brüderlichkeit? Gleichheit wird er nur erleben in Sachen schulischer Segregation. In unseren Schulen herrscht Apartheid.

SZ: Es gibt Stimmen, die von clash of civilization und religiösen oder ethnisch-identitären Konflikten sprechen.

Wieviorka: Diese Stimmen stützen sich auf zwei Voraussetzungen, die leicht zu erschüttern sind. Erstens reden sie vom ethnischen Charakter der Unruhen. Was soll das heißen? Dass die, die gewalttätig sind, dadurch ihre Abstammung ausdrücken? Das ist dumpfer Rassismus. Zweitens setzen sie voraus, dass die Unruhen religiös motiviert gewesen seien. Man hat aber die Jugendlichen nie islamistische Slogans rufen hören. Und wenn islamische Geistliche aus den Vierteln auftauchten, haben sie dazu aufgerufen, aufzuhören und nach Hause zu gehen. Nein, es geht hier darum, dass unser Integrationsmodell gescheitert ist.

SZ: War es nicht auch deshalb schwer, politisch zu reagieren, weil es keine Sprecher einer Bewegung, keine offiziellen Botschaften oder Forderungen gab?

Wieviorka: Es war ein stummer Aufstand. Die Aufständischen haben nichts gesagt. Nichts. Sie haben Autos angezündet und damit weltweit Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Autos anzünden ist Sachbeschädigung. Aber man kann es auch unter einem anderen Gesichtspunkt sehen: Ich amüsiere mich. Ich sorge dafür, dass alle über mich reden. Ich bin im Fernsehen, also bin ich.

"In unseren Schulen herrscht Apartheid"

SZ: Inwieweit haben die Medien die Unruhen befeuert? Anscheinend haben Zeitungsdiagramme, die zeigten, in welchem Viertel wie viele Autos gebrannt haben, den sportlichen Ehrgeiz der Jugendlichen oft erst richtig angeheizt.

Wieviorka: Ich erinnere mich, wie ich mal in Straßburg in den Achtzigern mit Jugendlichen redete, die sich schon damals brüsteten: "Wenn unsere Gang Autos verbrennt, sind wir in den nationalen Nachrichten. Die Loser aus dem Nachbarviertel schaffen es immer nur in den Lokalteil." Das hat sich verstärkt.

SZ: Gibt es heute eine Art offizielle Erzählung unter den Jugendlichen über die dreiwöchigen Ausschreitungen?

Wieviorka: Nein. Schon weil man sie nicht zusammen erlebt hat. Man hat sich übers Handy verständigt, kurz zusammengetan und wieder aufgelöst. Und es gibt keine Kultur des Gedenkens, das Leben dieser Jugendlichen formt sich nicht in Diskursen, die zappen von Event zu Event. Mittlerweile gab es im Fernsehen die Star-Academy und die Fußball-WM; die hatten keine Zeit, sich in einer romantischen Erzählung einzurichten.

SZ: Der Soziologe David Altheide zeigt in seinem Buch "Creating Fear", dass die amerikanischen Medien seit den neunziger Jahren das Bild einer Welt außer Kontrolle zeichnen. Dass ihre einzige Botschaft die Angst sei. Altheide sagt, dass man in einer säkularisierten Gesellschaft keine Angst mehr vor Gott, sondern vor dem Verbrechen habe. Sie haben seine These in Ihrem Buch über "Die Gewalt" weitergeführt: Parallel zum Begriff der Angst habe sich der Begriff des Opfers weiterentwickelt: Da jeder potenzielles Opfer sei, werde über das Opfer zunehmend affirmativ gesprochen.

Wieviorka: Es gibt immer mehr Leute, die sagen: "Seht her, ich bin Opfer. Oder ich bin direkter Nachkomme von Opfern. Und ich fordere zweierlei: Dass die Geschichtsschreibung meines Landes dem Rechnung trägt. Und dass man akzeptiert, dass das, was damals passiert ist, noch heute auf meinem Leben lastet und mich benachteiligt." Das ist erst mal nichts Schlechtes, im Gegenteil.

SZ: Aber Sie sagen auch, dass heute zahllose Menschen Opfer sein wollen, um die mit dieser Rolle verbundene Aufmerksamkeitsprämie einzustreichen.

Wieviorka: Ja, es gibt auch Exzesse im Opferdiskurs. Menschen, die sich einschließen im Selbstbild eines Opfers. Diese Menschen entwerfen eine negative Identität, indem sie sich durch das definieren, was man ihnen genommen hat.

SZ: Sie schreiben, man müsse das Subjekt wieder in den Mittelpunkt der Soziologie stellen.

Wieviorka: Die Strukturalisten haben übertrieben, als sie den Tod des Subjekts erklärten und alles durch Strukturen erklärten. Da war kein Platz mehr für ein handlungsfähiges Subjekt. Wir müssen in den Sozialwissenschaften dem Subjekt und dessen Fähigkeit, sich eine Existenz zu schaffen, wieder seinen Ort geben.

SZ: Sie zitieren in "Die Gewalt" die Unruhen von Lyon im Jahre 1983 und schreiben, die Hoffnungslosigkeit und Gewalt habe sich daraus gespeist, dass die Jugendlichen kein politisches Forum mehr besaßen. Das hatten sie doch jetzt auch nicht. Worin liegen die Unterschiede?

Wieviorka: Unruhen sind seit Ende der siebziger Jahre ein Element der totalen Krise unserer Integrationspolitik. Aber früher gab es in den betroffenen Vierteln als Bindeglied die Kommunistische Partei. Die Viertel da draußen hießen nicht ohne Grund banlieues rouges. Zweitens gab es ein dichtes Netz von Vereinen und Organisationen. All das ist verschwunden, weil die Mittelschicht verschwunden ist, welche die meisten dieser Vereine getragen hat.

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