Süddeutsche Zeitung

"Unruh" im Kino:Zeit ist Geld

Kommt ein russischer Anarchist in eine Schweizer Uhrenfabrik: Der Spielfilm "Unruh" erzählt vom durchgetakteten Leben in der kapitalistischen Moderne.

Von Philipp Stadelmaier

Wer glaubt, der Umsturz bestehender Ordnungen sei nicht ohne diskursive Rohheit zu haben, wird in Cyril Schäublins "Unruh" eines Besseren belehrt. Revolutionen können auch so elegant und höflich daherkommen wie der russische Herr, der in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts einen Uhrmacherort im Schweizer Kanton Jura bereist. Sein Name ist Pyotr Kropotkin, der sich später als Theoretiker des Anarchismus einen Namen machen wird, aber auch Geograf und Landvermesser ist.

Im Jura macht Kropotkin (Alexei Evstratov) die Bekanntschaft der Arbeiterinnen und Arbeiter der Uhrenfabrik, die in einer anarchistischen, international vernetzten Gewerkschaft organisiert sind. Der kommunistische Anarchismus lehnt jede Form von Zentralgewalt ab, sein Ideal besteht in lokalen, selbstverwalteten Kommunen. Nun ist die Schweizer Gemeinde das absolute Gegenteil von Anarchie. Die Fabrik untersteht einem kapitalistischen Besitzer, Arbeitszeit und -effizienz werden penibel kontrolliert, die Polizei wacht über Ruhe und Ordnung. Doch zwischen den einander entgegengesetzten gesellschaftlichen Kräften und Klassen wird es niemals laut, kommt es nicht zur kleinsten Unhöflichkeit. Eine wiederholte Geste: Wer Streichhölzer möchte, um sich eine Zigarette anzuzünden, wird eingeladen, die Schachtel zu behalten.

Die Arbeiter erzeugen die Werkzeuge ihrer eigenen Unterdrückung

Für seinen Spielfilm hat der Schweizer Filmemacher Cyril Schäublin nicht ohne Grund zahlreiche Preise bei diversen Festivals gewonnen, unter anderem bei der Berlinale vergangenes Jahr. Denn Schäublin analysiert die politischen Spannungen über den Umweg der pedantisch vor sich hin tickenden Uhren, die in dem Städtchen hergestellt werden. Die Unruh ist ein Begriff aus der Uhrmachersprache, ein Schwingsystem im Uhrwerk, das genau "ausgewuchtet" werden muss. Der Vorgang wird im Film wiederholt gezeigt, während Kontrolleure in der Fabrik die Zeit stoppen, die von den Uhrmacherinnen dazu benötigt wird. Denn Zeit ist Geld. Wer zu wenig Uhren abfertigt, kriegt Lohnabzug oder wird - mit den besten Wünschen für einen schönen Tag! - gekündigt. Die Arbeiter erzeugen die Werkzeuge ihrer eigenen Unterdrückung.

So handelt Schäublins Film von Fabrikation und Vermessung, von Zeit und Raum in der kapitalistischen Moderne. Die dazu verwendeten Instrumente sind neben den Uhren die Fotoapparate. Mit denen können Porträts gemacht werden, die etwa zu Fahndungszwecken verwendet werden. Und dann sind da noch die Landkarten, mit ihren Einteilungen des Territoriums in Kantone und Nationen. Dagegen setzt der Landvermesser Kropotkin seine Idee einer "anarchistischen Karte", ohne Zentren, ohne Grenzen.

Nun vereinigen sich all diese Aspekte im filmischen Bewegtbild, das ja sowohl Bild- als auch Zeitmedium ist. Wenn im Film Herrschaft ausgeübt wird, dann dadurch, dass die Einstellungen die Zeit und den Raum immer auch beschneiden, Dinge ausblenden. Dies unterläuft Schäublin, indem er die Bildmitte verschiebt, die auf einmal nicht mehr dort ist, wo sie sein sollte. Der dezentrierte Bildrahmen überschreitet anarchistisch seine eingezogenen Grenzen. Die Herrschaft des zentrierten, gegängelten Blicks wird infrage gestellt, die Karte vom ungebändigten Territorium überschritten.

Insgesamt ist Schäublins Film zu kalkuliert, kontrolliert und beherrscht, um einen revolutionären Elan freizusetzen. Die Beziehungen zwischen Anarchie und Ordnung bleiben dank der Präzision, mit der der Filmemacher vorgeht, dann doch allzu geordnet. Und letztlich ist diese Art von Geschichts-Reenactment und Vergangenheitstheater immer auch eine Praxis, um nicht über die Gegenwart sprechen zu müssen, deren linke Diskurse zu kompliziert und verworren sind, um im Takt eines Schweizer Uhrwerks zu laufen. Dennoch gelingt dem Schweizer Filmemacher eine bemerkenswerte Operation: Mit dem Einbau des regelmäßig schwingenden Taktgebers in die Uhr verankern seine Anarchistinnen und Anarchisten die politische Unruhe im Herzen der kapitalistischen Moderne - auf die allerhöflichste Art und Weise, versteht sich.

Unrueh, Schweiz 2022 - Regie, Buch, Schnitt: Cyril Schäublin. Kamera: Silvan Hillmann. Mit Clara Gostynski, Alexei Evstratov, Monika Stalder. Grandfilm, 93 Minuten. Kinostart: 5. Januar 2023.

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