Ungewisse Zukunft der Stammzellenforschung:Zum Tanzen gezwungen

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Ein bisher unbekanntes Papier des Deutschen Bundestages, aus dem die Süddeutsche Zeitung exklusiv zitiert, stellt der Stammzellenforschung ein verheerendes Zeugnis aus: Frühestens in 20 Jahren wird es Ergebnisse geben.

Alexander Kissler

Kompromisse sind der Anfang, nicht das Ende des Streits, im Ausgleich lauert der Hader, Fundamente zerbröseln, und noch die kostbarste Sternstunde entzaubert der Alltag: So lauten die Lektionen eines biopolitisch geradezu revolutionär beschleunigten Jahres 2006, eines Jahres voll der wunderlichsten Kapriolen, Illusionen, Metamorphosen. Insofern ist es absolut stilgerecht, dass dieses Jahr mit einem dramatischen Schlusseffekt zu Ende geht:

Bundeskanzlerin Angela Merkel (M.), der scheidende Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Ernst-Ludwig Winnacker (l.) und sein neugewählter Nachfolger Matthias Kleine, am 31.5.2006 in der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. (Foto: Foto: dpa)

Die sogenannten "Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages" stellen in einem 16-seitigen Dossier fest, dass der erbittert geführte Kampf um mehr Freiheit für die Embryonenforschung auf falschen Voraussetzungen beruht. Entgegen den Aussagen mancher Vorstandsvorsitzender, Wissenschaftsfunktionäre und Politiker sei es "plausibel, dass eine medizinische Therapie mit embryonalen Stammzellen, wenn überhaupt, eher in einem Zeithorizont von 20 Jahren zu realisieren sein könnte."

So zitiert Hubert Hüppe, BioethikExperte der CDU, den faktenreichen Bericht, der auf seine Anfrage hin zustande kam - unmittelbar nach den Forderungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) vom November, künftig unbegrenzt mit importierten embryonalen Stammzellen experimentieren zu dürfen. Keinen Zweifel lässt das Dossier auch daran, dass die ethisch unumstrittene Forschung mit adulten Stammzellen, für die keine Embryos vernichtet werden müssen, das erfolgversprechendere Feld ist. Schließlich ist die Therapie mit adulten Zellen seit gut 40 Jahren breit etabliert.

Konkrete Behandlungsformen hier treffen auf unbewiesene Hypothesen dort. Daraus folgt: Die Debatte wird seit Jahren falsch geführt. Eher über die medizinische Sinnfälligkeit der Forschung als über deren ethische Einordnung hätten die Kombattanten sich die Köpfe heißreden können und sollen.

Das Verdikt gilt auch für die als parlamentarische Sternstunde gepriesene Grundsatzdebatte vom 30. Januar 2002. Damals votierte die Mehrheit des Bundestages für jenes "Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes", das die DFG und die Kanzlerin und die Bundesforschungsministerin und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche heute für revisionsbedürftig halten.

Così fan tutte

Damals war es nahezu unstrittig, dass die Forschung an embryonalen Stammzellen, so Peter Hintze (CDU), eine "Basisinnovation des 21. Jahrhunderts" sei. Angela Merkel verwahrte sich dagegen, deren Befürworter als "Erfüllungsgehilfen einer wissenschaftlichen Innensicht" zu denunzieren. Das Gesetz schien - so Andrea Fischer (Grüne) - "eine Brücke zwischen den verschiedenen Interessen (...) auf einem soliden ethischen Fundament" zu sein.

Fast niemand stellte die Frage, weshalb denn ein Forschungszweig, der weder damals noch heute seine Tauglichkeit im Tierversuch bewiesen hat, auf den Menschen ausgedehnt werden solle. Als Relevanznachweis genügte die Hoffnung auf Heilung der bis dato Unheilbaren.

Auch 2007 wird das biopolitische Mantra lauten, ob es sich nun um Gentherapie handelt oder Klonversuche, um vorgeburtlichen Embryonencheck oder Stammzellenforschung: was gemacht werden kann, muss auch gemacht werden, così fan tutte. Noch der heikelste Ehrgeiz sichert Arbeitsplätze. In der DFG-Schrift heißt es, die "Wettbewerbsfähigkeit deutscher Wissenschaftler" sei zu sichern; immerhin werde "an der Entwicklung von Therapieverfahren mit humanen embryonalen Stammzellen international mit Hochdruck gearbeitet."

Als Beleg für den globalen Hochdruck dient der DFG der Hinweis, die Firma Geron habe für 2006 den Einsatz solcher Zellen in klinischen Studien angekündigt. Bei der Ankündigung ist es geblieben.

Erstaunlich ist die neue Offenheit, mit der Christdemokraten und Christsoziale auf die Fatamorganisierung der Lebenswissenschaften reagieren. Die beiden forschungspolitischen Sprecherinnen von CDU und CSU, Katherina Reiche und Ilse Aigner, befürworten eine Aufweichung des Stammzellgesetzes, und auch Thomas Rachel, parlamentarischer Staatssekretär im Forschungsministerium, unterstützt mittlerweile Annette Schavans Anregung, den Stichtag, bis zu dem die Stammzellen im Ausland gewonnen sein müssen und der bisher auf Januar 2002 lautet, näher an die Gegenwart zu rücken. Noch im Mai hatte Rachel das geltende Gesetz mit dem alten Stichtag die "ehrlichste Lösung" und einen "guten Kompromiss" genannt.

Menschkühe und Hasenmenschen

Den gewaltigsten biopolitischen Hochdruck entfacht das Vereinigte Königreich. Dort lässt sich brennspiegelhaft beobachten, wie Wissenschaft zur Technik wird und Technik zur Währung im Ringen um "Weltmarktführerschaft".

Das unhandliche Wort gebrauchte Ende September ein Sprecher des schottischen "Roslin Institute", der Geburtsstätte von Klonschaf Dolly. Anlass für die ehrgeizige Aussage - "Schottland kann nun Weltmarktführer werden" - war die Eröffnung eines Zentrums zum Verkauf menschlicher Stammzellen, des "Roslin Cell Centre". Fast dieselben Worte hatte bereits im August, aus sehr ähnlichem Anlass, der britische Gesundheitsminister gewählt. Großbritannien werde "die Welt anführen" dank der "UK Biobank": Innerhalb der nächsten 30 Jahre sollen für knapp 100 Millionen Euro die genetischen Daten von rund 500000 Briten gesammelt werden.

Forscher aus London, Edinburgh, Newcastle wollen das Erbgut von Kuh und Mensch oder von Hase und Mensch fusionieren, um den Rohstoff der Klon- und Embryonenforschung, die weibliche Eizelle, in größerer Zahl gewinnen zu können; im Januar wird über die Anträge entschieden. Dem Eizellenmangel abhelfen soll auch das im Juli genehmigte Angebot der Forscherteams aus Durham und Newcastle, Frauen einen Rabatt von 50 Prozent zu gewähren, wenn sie im Zuge einer künstlichen Befruchtung die Hälfte der Eizellen für Klonversuche weiterreichen.

Die "Stammzellentechnologie" wird auch, geht es nach dem Präsidenten der Harvard Universität, "eine weitreichende Wirkung in Wissenschaft, Medizin und Ökonomie" haben.

Dass das Wissen der Lebenswissenschaften längst zur Technologie verfeinert worden ist und auch alle neu anstehenden Fragen rein technisch gelöst werden sollen, dass also die Ebene der Grundsatzdebatte verlassen wurde zugunsten eines pragmatischen Kalküls, ist Allgemeingut im Lande von Queen Elisabeth.

Für den Präsidenten der "Royal Society" ist die verbrauchende Embryonenforschung nur eine "technische Erweiterung" der künstlichen Befruchtung. Hierzulande müht man sich hingegen, aus britischer Perspektive, mit Welterklärungsmodellen ab. Beides ist verständlich nur vor dem Hintergrund unangleichbarer Menschenbilder und Wertekategorien, die entweder Autonomie und Lebensqualität oder Menschenwürde und Leben den Höchstrang zuerkennen; beides aber unterläuft die Relevanzfrage: Warum eigentlich soll von geklonten Zellen Heil und Heilung ausgehen? Noch kein einziges Tier ist an ihnen genesen.

Südkorea und Schavan

Unverdrossen öffnet dennoch Land um Land die Tore weit. Das tschechische Parlament legalisierte im Februar die Embryonenforschung. In Australien votierte erst der Senat, dann das Unterhaus für eine Aufhebung des Klonverbots. Leidenschaftlich warf sich der Verteidigungsminister in die Bresche. Die derzeitige Generation habe enorm vom medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritt profitiert. Nun sei man "gegenüber den kommenden Generationen verpflichtet, die gleiche Weisheit und den gleichen Mut zu beweisen".

Der Hinweis auf die Generationenfolge entspringt wohl der Ahnung, dass Anwendungen noch nicht einmal am Horizont zu erkennen sind. Dennoch lassen sich die Kollegen des im Januar enttarnten Klonscharlatans Hwang Woo Suk ihren Optimismus nicht nehmen. Tierarzt Hwang darf zwar bis zur Urteilsverkündigung und auf privater Basis weiterforschen, doch auch ohne den einstigen "Wissenschaftler Nummer Eins" will die südkoreanische Nationaluniversität von Cheju das Unmögliche vollbringen. In abenteuerlich raschen fünf Jahren soll eine Therapie vorliegen auf der Basis embryonaler Stammzellen.

Die deutsche Forschungsministerin nennt den Mensch des 21. Jahrhunderts einen "aktiven Choreographen und Gestalter" der Natur. Könnte es sein, dass eines Tages die Natur ausbricht aus dem Korsett der Vorgaben, in die der Mensch sie zwängt? Tanz und Gewalt vertragen sich schlecht.

© SZ v. 29.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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