Ungarn:Gefährliche Jahre

Volksaufstand in Ungarn, 1956

Niemand schützt die Aufständischen vor der falschen Auslegung ihrer Taten: Szene aus dem umkämpften Budapest im Jahr 1956.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Orbans Regierung will die Erinnerung an 1956 und 1989 kontrollieren. Unabhängige Forschungsinstitute stören da nur.

Gastbeitrag von  Tobias Rupprecht und Dora Vargha

Der Frühsommer war der Auftakt des Umbruchjahrs 1989. Am 4. Juni fanden die ersten teilweise freien Wahlen in Polen statt, während gleichzeitig Panzer der Volksbefreiungsarmee die chinesische Demokratiebewegung niederwalzten. Keine zwei Wochen später wurde der Held des Ungarnaufstandes 1956, der auf Moskaus Geheiß hingerichtete Reformkommunist Imre Nagy, feierlich rehabilitiert und umgebettet. Am Tag darauf gründeten liberale Intellektuelle das 1956-Institut. Es sollte sich fortan der Erforschung der antisowjetischen Rebellion und des Spätsozialismus widmen.

Genau 30 Jahre später verkündete nun die Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán das Ende des Instituts als unabhängige Einrichtung. Der Schlag ist ein weiterer Schritt zur Umdeutung der jüngsten Geschichte Ungarns sowie der politisch gelenkten Neuinterpretation das Jahres 1989 in ganz Osteuropa.

Seit Anfang der Achtzigerjahre hatten ungarische Historiker wie Péter Kende, György Litván und András Hegedüs in einem legalen Graubereich Interviews mit Teilnehmern des Aufstands aufgezeichnet. Ab 1985 unterstützte sie die Stiftung des amerikanisch-ungarischen Investors und Philanthropen George Soros finanziell. Nach dem Ende des Staatssozialismus entwickelte sich das nun offizielle Institut unter der Leitung von János M. Rainer zur führenden Forschungsstätte zur ungarischen Zeitgeschichte. Mit Unterstützung der sozialdemokratischen Regierung wurde es 1995 zu einer öffentlichen und steuerfinanzierten, aber inhaltlich unabhängigen Einrichtung. Es schuf eine einzigartige Sammlung von Sprachaufzeichnungen, Fotografien und Textdokumenten, es veröffentlichte Forschungsergebnisse und organisierte Konferenzen, oft gemeinsam mit akademischen Netzwerken in ganz Osteuropa.

Schon während Orbáns erster Amtszeit 1998 bis 2002 war das Institut Anfeindungen und Budgetkürzungen ausgesetzt. Stattdessen veranlasste die Regierung die Gründung des umstrittenen Museums "Haus des Terrors", dessen Leitung die Historikerin und Orbán-Vertraute Mária Schmidt übernahm. Die jüngste Historie Ungarns reduziert sich darin auf eine Geschichte der Unterdrückung durch totalitäre ausländische Mächte, wobei 40 Jahre Staatssozialismus mit dem Stalinismus gleichgesetzt werden. Nach Orbáns Rückkehr an die Macht im Jahr 2010 kamen historische Analysen und Erzählungen, die nicht dieser Repräsentation der Vergangenheit entsprachen, sofort wieder unter Beschuss. Gegen Historiker, die zum 55. Jahrestag die offizielle Darstellung des Ungarnaufstandes kritisierten, wurden Disziplinarverfahren eröffnet.

Alle Parteien sind sich der Macht historischer Erzählungen bewusst.

Im Jahr 2012 ordnete Orbán die Integrierung des 1956-Instituts und seiner wertvollen Quellensammlung in die Ungarische Nationalbibliothek an. Ohne Rücksprache mit dessen Leitung oder den Mitarbeitern hat die Fidesz-Regierung nun angekündigt, dass das 1956-Institut vom sogenannten Veritas-Institut übernommen werde. Dieses ist direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt und verbreitet die historische Lesart einer "wahren ungarischen Kultur" nach dem Geschmack der politischen Führung. Zuletzt machte es mit antisemitischen Ausfällen von sich reden, als es die Zulassungsbegrenzung für das Studium von Juden in den Zwanzigerjahren rechtfertigte Die feindliche Übernahme des 1956-Instituts erfolgt nun genau 30 Jahre nach seiner Gründung. Ungarische und internationale Historiker reagierten mit Entsetzen und haben zu Unterstützungskampagnen aufgerufen. Einige Zeitzeugen, deren Aussagen zur Sammlung gehören, haben ihre Zustimmung zur Veröffentlichung widerrufen.

Die Revolutionen von 1956 und 1989 sind wichtige Bezugspunkte in der Identitätsfindung des postkommunistischen Ungarns. Alle Parteien sind sich der enormen politischen Macht historischer Narrative bewusst und definieren sich seit dem Ende des Staatssozialismus über historische Traditionslinien - die rechtsextreme Jobbik-Partei ist sogar teilweise aus einer Gruppe Historiker an der renommierten Eötvös-Loránd-Universität entstanden, die eine verklärende Sicht auf das autoritäre Ungarn der Zwischenzeit teilten.

Die zentrale Rolle kommt aber der Bewertung Imre Nagys im Ungarnaufstand zu. Die aus der Staatspartei hervorgegangenen Sozialdemokraten präsentieren sich als Vertreter des demokratischen Aufbruchs in der Tradition der Reformkommunisten Nagy und Gyula Horns. Letzterer hatte 1989 den Eisernen Vorhang zu Österreich durchtrennt. Wie in vielen anderen osteuropäischen Staaten wurden die Postkommunisten Mitte der Neunzigerjahre überraschend wieder an die Macht gebracht von Wählern, die mit der Art des Übergangs zum Marktliberalismus enttäuscht waren, sie setzten aber die liberalen Reformen fort.

Als junger Politiker beschrieb Orban den Reformkommunisten Imre Nagy als Opfer des Sowjetkommunismus.

Viktor Orbáns politischer Aufstieg begann an der neuen Ruhestätte Nagys in Budapest, wo Orbán, gerade 26 Jahre alt, anlässlich der Umbettung Nagys im Juni 1989 eine viel beachtete Rede hielt. Darin beschrieb er Nagy als Opfer des Sowjetkommunismus und seine Ermordung als Beweis für die Unvereinbarkeit von Sozialismus und Demokratie.

In den folgenden Jahren präsentierte Fidesz auch den Kommunismus der Achtzigerjahre als Fortsetzung des Stalinismus, um die an die Macht zurückgekehrten Postkommunisten zu diskreditieren. Geschickt schöpfte er politisches Kapital aus Ressentiments in der Bevölkerung gegenüber der - mehr gefühlten als realen - Elitenkontinuität über die politische Wende hinweg. Ähnlich wie die Kaczyński-Brüder in Polen nährte er so den verbreiteten Glauben, dass nach 1989 eine Verschwörung liberaler Eliten und ehemaliger Kommunisten das "gemeine Volk" seiner nationalen Revolution beraubt habe.

In den Hintergrund gedrängt wurde dabei, dass Fidesz selbst viele ehemalige kommunistische Parteieliten versammelte, und dass Orbáns Politikstil in deutlicher Kontinuität zum autoritären Populismus des Spätsozialismus unter János Kádár steht: Ungarn pflegt gute Beziehungen zu den ehemaligen Partnern der sozialistischen Welt von Polen über Russland bis China. Wie im Gulaschkommunismus verbindet Orbán eine Rhetorik des fürsorglichen Nationalstaats mit einer bedrohlichen Darstellung der westlichen und muslimischen Außenwelt. Immer wieder finden sich auch deutlich antisemitische Untertöne gegen Soros, der einst Orbáns Studium im Westen finanziert hatte.

Orbáns Rückkehr an die Macht 2010 und seine zweifache triumphale Wiederwahl belegen die Popularität seiner historischen und politischen Geschichtsdarstellung. Der Nimbus des westlichen liberalen Modells war durch die Finanz- und folgende Wirtschaftskrise ab 2008 angeschlagen; in ganz Osteuropa übernahmen ähnlich gesinnte politische Bewegungen die Macht.

Mit dem 1956-Institut stirbt die letzte unabhängige Forschungseinrichtung für Geisteswissenschaften.

Im Inneren trug der Misserfolg der Sozialdemokraten und auch ihr ungeschicktes Auftreten gegen Unruhen im Land anlässlich des 50. Jahrestages von "1956" zu einer Diskreditierung liberal-demokratischer Narrative bei. Orbán genießt nun den Rückhalt eines Großteils der Bevölkerung für seine breit angelegte Kampagne gegen missliebige Stimmen im Wissenschaftsbetrieb. Vor allem die Soziologie sowie Geschichts- und Politikwissenschaften waren dem Regime schon lange ein Dorn im Auge: Sie stehen angeblich unter den Einfluss von Soros.

Neu eingeführte und direkt von der Regierung ernannte "Universitätskanzler" kontrollieren nun die Verteilung von Finanzmitteln an die Fakultäten. Manche Disziplinen wie die Genderstudies wurden von Amt wegen als "unwissenschaftlich" deklariert und aus den Curricula verbannt. Forschung zu Themen wie Migration oder Homosexualität werden öffentlich als Steuergeldverschwendung angeprangert. Die von Soros begründete und finanzierte Central European University in Budapest steht vor dem Aus. Die fast 200 Jahre alte Ungarische Akademie der Wissenschaften wird ihre Forschungseinrichtungen verlieren. Sie werden von Orbáns 2018 gegründetem "Innovationsministerium' übernommen, das bereits heute einen Großteil der Forschungsfinanzierung kontrolliert. Mit dem Ende des 1956-Instituts verbleibt somit keine akademische Einrichtung der Geistes- oder Sozialwissenschaften in Ungarn, in der die Freiheit der Forschung gewährleistet ist

Die historischen Referenzpunkte der Jahre 1956 und 1989 wurden zuletzt von der Fidesz-Regierung immer weniger bemüht, vermutlich da beide ideelle Anknüpfungspunkte für einen Widerstand gegen Orbáns Politik bieten können. Die restriktive Flüchtlingspolitik der Fidesz-Regierung wurde im In- und Ausland oft mit der Aufnahme von 200 000 ungarischen Flüchtlinge im westlichen Ausland 1956 verglichen. Auch passt die liberale Westorientierung von 1989 schlecht zur heutigen Öffnung Ungarns zum Osten. Schon in Orbáns Rede zum 25. Jahrestag, kurz nach seiner Wiederwahl im Jahr 2014, ging er daher kaum auf die Ereignisse der friedlichen Revolution ein und erklärte stattdessen das Jahr 2008 zum entscheidenderen Wendepunkt der ungarischen Geschichte. In einer Reihe programmatischer Reden konstatierte er eine fundamentale Krise des Westens und der verachteten liberalen Werte und verkündete eine stärkere Anbindung an illiberale Partner weltweit, von Wladimir Putins Russland und Recep Tayyip Erdoğans Türkei bis nach Indien, Singapur und China.

Anlässlich des 60. Jahrestages des Ungarnaufstandes von 1956 hielt sich Orbán zurück. In einer Nacht- und Nebelaktion kurz vor dem letzten Jahreswechsel wurde schließlich Imre Nagys Statue vom Parlamentsplatz entfernt.

Parallel zu ähnlichen Tendenzen in ganz Osteuropa hat die ungarische Geschichte eine Neuinterpretation erfahren. Drei Jahrzehnte nach 1989 ist das liberale Narrativ vom demokratischen Aufbruch in die Defensive geraten. Seine akademischen Verteidiger stehen entweder in der Schusslinie der Regierung oder haben bereits Ungarn den Rücken gekehrt. Aus den einstigen Helden des Übergangs, den liberalen Dissidenten und den zum Rückzug bereiten Reformkommunisten, wurden Verräter des Volkes.

Die Autoren sind Historiker an der britischen University of Exeter. Von Tobias Rupprecht erscheint demnächst der Band "1989. A Global History of Eastern Europe. Cambridge UP, 2019. Von Dora Vargha erschien zuletzt die Studie "Polio across the Iron Curtain: Hungary's Cold War with an Epidemic. Cambridge UP, 2018.

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