Unbekannte Picasso-Werke:Die kubistische Garage

Eigentlich wollte Pierre einen ruhigen Lebensabend in den Hügeln hinter Cannes verbringen. Daraus wird wohl nichts: Picassos ehemaliger Elektriker hat jahrzehntelang 271 Werke aus dessen gesamter Schaffensperiode gehortet.

Stefan Ulrich

Wie ein Kunsttempel sieht das Anwesen nicht gerade aus. Es ist ein bescheidenes weißes Einfamilienhaus mit kleinen Fenstern und türkisfarbenen Läden, wie man sie hier, im Süden Frankreichs, häufig sieht. Eine Thujenhecke umgibt den gekiesten Hof. Die Tür zur Garage steht offen, zu jenem Raum also, der noch eine Rolle spielen wird in diesem Stück. Nun zeigen die Bilder im Fernsehen, wie Pierre Le Guennec in den Hof tritt und durch das Tor mit einem Kamerateam spricht.

Angebliche Picasso-Werke in Frankreich aufgetaucht

Pierre Le Guennec und seine Frau sagen, sie hätten keine Ahnung gehabt, wie viel die Werke in der Garage wert seien. Konservativ geschätzt dürfte sich die Summe auf 60 Millionen Euro belaufen.

(Foto: dpa)

Der rüstige Mann Anfang 70 trägt Jeans, Hosenträger und ein kariertes Hemd. Er gestikuliert mit seinen kräftigen Handwerkerhänden, er ist aufgeregt. Eigentlich wollte er mit seiner Frau hier in dem Örtchen Mouans-Sartoux in den Hügeln hinter Cannes einen beschaulichen Lebensabend verbringen. Doch nun ist er ins Epizentrum einer Geschichte geraten, die die Kunstszene erschüttert. Und noch ist nicht klar, ob diese Geschichte ein Märchen oder ein Kriminalfall ist.

Womöglich werden Pierre Le Guennec und seine Frau Danièle jenen Septembertag verfluchen, an dem sie in die Garage gingen, um die Picasso-Bilder aus den Kartons zu holen und in einen Rollkoffer zu stopfen. Das Ehepaar fuhr damit nach Paris und marschierte in die Rue Volney. Den Koffer zogen sie hinter sich her. Heute sagen die beiden, sie hätten nicht geahnt, dass der Inhalt 60 Millionen Euro wert ist - konservativ geschätzt.

In der Rue Volney residiert Claude Picasso, der Sohn des Malers und Verwalter der Erbengemeinschaft. Das Rentnerehepaar breitete vor ihm den Inhalt seines Koffers aus: 271 bislang unbekannte, nicht klassifizierte, in keinem Kunstband abgebildete Werke Pablo Picassos. Der Sohn des Künstlers blickte auf neun kubistische Collagen, auf ein Aquarell aus der blauen Periode, auf 15 Studien zu "Die drei Grazien", auf ein Porträt seiner ersten Frau Olga, auf Landschaftsbilder, kämpfende Hunde, eine Kreuzigungsszene, Satyrn und zahlreiche andere Zeichnungen, Lithographien und Gouachen sowie zwei Blöcke mit vielen Skizzen. Claude Picasso traute seinen Augen kaum. Er habe das als "sehr große Überraschung" empfunden, erzählte er später. Es habe ihn aufgewühlt, "diese Kunstwerke zu entdecken, die wir nicht kannten".

Grazien und Satyrn im Rollkoffer

Dabei war Claude Picasso vorgewarnt. Bereits im Januar hatte ihm Monsieur Le Guennec einen Brief mit 26 Fotos von angeblichen Picasso-Werken geschickt und ihn gebeten, dafür Echtheitszertifikate auszustellen. Er bekommt jährlich Hunderte solche Anfragen. In der Regel geht es um Fälschungen. Diesmal stutzte er. Die Fotos waren von mäßiger Qualität, doch die Werke schienen echt zu sein. Im März und April schickte Le Guennec Dutzende weitere Fotos. Claude Picasso fragte sich, auf was er da gestoßen war.

Im September prüfte Picasso drei Stunden lang gemeinsam mit Kunstexperten die Werke. Danach war er überzeugt: Sie sind echt. Denn sie stammen aus verschiedenen Schaffensperioden des Meisters, kein Fälscher wäre wohl in der Lage, alle diese Maltechniken nachzuahmen und dabei stets den ganz speziellen Stil des erfolgreichsten Malers des 20. Jahrhunderts zu treffen. Picasso war überzeugt, es mit Dieben oder Hehlern zu tun zu haben. Er schickte das Ehepaar mit seinem Rollkoffer fort und schaltete die Justiz ein.

Die Staatsanwaltschaft im südfranzösischen Grasse wiederum wandte sich an eine Spezialeinheit der französischen Polizei, das "Zentralbüro für den Kampf gegen den illegalen Handel mit Kulturgütern". Die Sondertruppe der Kriminalpolizei verfügt über Kunstspezialisten und spezielle Datenbanken, um Raubkunst aufzuspüren und zu beschlagnahmen.

"Was sein wird, wird sein"

Am 5. Oktober rückte die Polizei in Mouans-Sartoux an. Sie beschlagnahmte die Picasso-Werke in der Garage und nahm Madame und Monsieur Le Guennec vorläufig fest. Das Rentnerpaar war empört. Der Mann sagte am selben Tag vor der Polizei aus: "Ich habe sie (die Werke) nicht gestohlen." Vielmehr seien sie ihm von Pablo Picasso und dessen Frau Anfang der 70er Jahre geschenkt worden. "Der Meister hat meinem Mann einen Müllsack mit den Zeichnungen gegeben", ergänzte Madame Le Guennec. Seitdem hätten sie, die ja wenig von Kunst verstünden, die Bilder in der Garage aufbewahrt.

Ein starkes Stück

Das Paar wurde daraufhin zunächst auf freien Fuß gesetzt, die Ermittlungen laufen noch. Erst in dieser Woche wurde der Fall in Frankreich bekannt. Pierre und Danièle Le Guennec sehen sich nun von Reportern belagert. 271 unbekannte Werke Picassos in einer Garage - ein starkes Stück. Die Le Guennecs aber beteuern, es sei alles mit rechten Dingen zugegangen. Der Mann will als Elektriker von 1970 bis zu Picassos Tod im Jahr 1973 für den Künstler gearbeitet haben, etwa beim Einbau von Alarmanlagen in den diversen Wohnungen und Ateliers des Malers in Südfrankreich. Danach habe er für die Witwe weitergearbeitet. Beide hätten sich mit den Werken erkenntlich gezeigt. "Wir sind keine Diebe", sagte Madame Le Guennec der Zeitung Aujourd'hui en France.

Glaubt man der Geschichte von der märchenhaften Schenkung, so hat es seinen Sinn, dass das Ehepaar sich an Picassos Sohn wandte, um die Echtheitszertifikate zu bekommen. Der Elektriker musste sich dieses Jahr einer Krebsoperation unterziehen. Er dachte an den Tod und wollte für seine Kinder die Erbschaft regeln. Wie sollten die Erben erklären, sich plötzlich im Besitz Hunderter Picassos zu befinden? Le Guennec wollte seinen Kindern mit den Bescheinigungen helfen.

Die Familie Picasso mag nicht an diese wundersame Geschichte glauben. Sie argwöhnt, der Elektriker habe bei seinen Arbeiten die Werke mitgehen lassen. Da Diebstahl schon verjährt wäre, hat sie Le Guennec wegen Hehlerei angezeigt. Jean-Jacques Neuer, der Anwalt der Erben, sagt apodiktisch: "Es ist ausgeschlossen, dass Picasso denen die Werke geschenkt hat." Die Kunstgeschichte sei eine Wissenschaft, die geradezu mathematischen Regeln folge. Daher lasse sich mit Sicherheit sagen, dass die Werke entwendet wurden. Picasso sei ein Mann gewesen, der sich seiner Berühmtheit sehr bewusst gewesen sei. Daher habe er seine künstlerische Produktion sorgfältig gepflegt. "Er hat sogar Metro-Fahrkarten aufgehoben, auf die er Skizzen hingeworfen hatte. Die Vorstellung, dass er 271 Werke einem Elektriker geschenkt hat, ist absurd."

Picasso verschenkte gerne Werke

Allerdings darf nicht übersehen werden, dass Picasso großzügig sein konnte. So schenkte er seinem Chauffeur Maurice Bressenu etliche Zeichnungen und Keramiken. Der Fahrer konnte bis zu seinem Tod gut von den Verkäufen leben. Auch sein Lieblingsbarbier, Eugenio Arias, kam nicht zu kurz. Er soll fast 60 Werke bekommen haben. Und dann waren da noch jene Damen, nicht wenige, die Picasso inspirierten und erfreuten, zumeist im Verborgenen. Der Künstler schenkte ihnen beim Abschied gerne Aktzeichnungen, die er von ihnen angefertigt hatte.

Der Fall des Elektrikers ist anders gelagert, sagt Maître Neuer. "Wir wissen fast alles über Picasso, doch nie taucht dieser Monsieur unter seinen Freunden auf." Zudem habe Picasso Werke, die er verschenkte, stets datiert, signiert und mit einer Widmung versehen. All das fehlte bei den Bildern aus der Garage. Zugleich sei es aber "absolut sicher", dass die Werke echt seien. "Unsere Sorge war, sie so schnell wie möglich in Sicherheit zu schaffen."

Die Bilder lagern nun im Depot der französischen Kunstpolizei in Nanterre bei Paris. Was mit ihnen geschehen wird, ist völlig offen. Erstmal muss sich die Justiz ein Bild von dem Fall machen. Sie kann sich dabei auf jene 17000 erhaltenen Fotos stützen, die in Picassos Ateliers gemacht wurden. Womöglich tauchen die Bilder aus der Garage darin auf. Der Elektriker Pierre Le Guennec gibt sich derweil fatalistisch. "Was sein wird, wird sein", vermutet er treffend. Eines aber dürfte ausgeschlossen sein: Dass die 271 Picassos je wieder in seiner Garage landen.

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