Süddeutsche Zeitung

Umstrittene Monumente:Von den Sockeln

In den USA und Großbritannien tobt ein Kampf um Statuen und Skulpturen im öffentlichen Raum. Lässt sich daraus etwas lernen?

Von Alexander Menden

Am vergangenen Wochenende verbreitete der offizielle Twitter-Account des Antiterror-Kommandos der New Yorker Polizei ein Foto von zwei mit Maschinenpistolen bewehrten Beamten. Sie bewachten die Bronzeskulptur eines Stiers, die an der Wall Street, nördlich des Bowling Green, aggressiven Börsenoptimismus repräsentiert. In der begleitenden Nachricht hieß es: "Die Börse hatte, gelinde gesagt, eine interessante Woche. Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass der Wall Street Charging Bull sicher ist und auf absehbare Zeit den Bowling Green beherrschen wird."

Zuvor hatten Unterstützer der Reddit-Bewegung, die in der besagten "interessanten Woche" begonnen hatte, den Börsenhandel aufzumischen, Fotos des Stiers geteilt. Sie zeigten ihn an Haupt und Hintern mit Klebebändern bestückt, auf denen Kampagnen-Sprüche wie "Hold the Line" (Stellung halten) standen.

Antiterrormaßnahmen gegen Klebebänder - das symbolisiert schön den Kampf, der mancherorts um die Deutungshoheit über Statuen und Skulpturen im öffentlichen Raum tobt. Dieser Kampf wird punktuell seit Jahren geführt. Im vergangenen Sommer gelangte er aber zu einem bis dahin unerreichten Siedepunkt. Im Juni holten Teilnehmer einer "Black Lives Matter"-Demonstration in der englischen Hafenstadt Bristol eine Statue des Sklavenhändlers Edward Colston vom Sockel, rollten sie zum Hafen und versenkten sie im Wasser.

Der Statuenstreit köchelt auch während der Pandemie munter weiter

Der gewaltsame Tod George Floyds in Minneapolis und die daraus resultierenden weltweiten Proteste lösten vor allem in den Vereinigten Staaten eine Reihe von Angriffen auf diverse Statuen aus: In Birmingham, Alabama, warfen Demonstranten das Standbild des Kapitäns Charles Linn um, der den Südstaaten im Bürgerkrieg logistische Hilfe geleistet hatte. In Kentucky und Indiana entfernten die Behörden ähnliche Denkmäler, die als Sklaverei verherrlichend gedeutet werden konnten. In Großbritannien ist neben Edward Colston vor allem der britische Kolonialist Cecil Rhodes schon seit Langem Ziel einer Kampagne, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Rhodes-Statue von der Fassade des Oxforder Oriel Colleges zu entfernen. Auch sie erhielt im Zuge der "Black Lives Matter"-Demonstrationen einen neuen Schub.

Die verschärfte Pandemielage und das Winterwetter haben den öffentlichen Statuenstreit auf Sparflamme gesetzt. Er köchelt aber durchaus weiter, wie gerade ein Artikel des britischen Ministers für Wohnungswesen und Kommunalverwaltung, Robert Jenrick, im Sunday Telegraph bewies: Jenrick schreibt von "brüllenden Mobs", deren Ziel es sei, britische Geschichte "auszulöschen", indem sie Denkmäler niederrissen. Eine "revisionistische Säuberung" bedrohe nun selbst Admiral Nelson auf seiner Säule am Trafalgar Square. Ein neues Gesetz soll nun die eigenmächtige Entfernung von Statuen durch Kommunalverwaltungen in Großbritannien verbieten. Stattdessen sollen sie durch historische Erklärungen ergänzt werden.

Es ist eine Wortmeldung auf einem Nebenschauplatz inmitten weit drängenderer gesellschaftlicher Herausforderungen. Aber sie ist eben auch deutliches Merkmal einer gesellschaftlichen Spaltung, die viele westliche Demokratien bedroht, in den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich allerdings derzeit ihre prägnanteste Ausprägung erfährt.

Alternative Sichtweisen auf dieselben historischen Tatsachen wurden lange nicht als relevant betrachtet

Die von Politikern wie Robert Jenrick (aber auch Donald Trump, einem Verteidiger von Statuen konföderierter Militärs) aufgeworfene Frage, wo all dieser Ikonoklasmus noch enden solle, stellt uns vor das falsche Dilemma, nur eine von zwei extremen, unvereinbaren Positionen einnehmen zu können: die der radikalen Bestandswahrer und die der radikalen Umstürzler. Vertreter beider Positionen werfen der anderen Seite vor, Geschichte und gesellschaftliche Zustände falsch darzustellen und Manifestationen ihrer korrekten Wahrnehmung aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verdrängen.

Das wäre nur haltbar, wenn es eine objektive Geschichte, eine objektive Einschätzung der gesellschaftlichen Lage gäbe. Wie der britische Wirtschaftshistoriker und Keynes-Biograf Robert Skidelsky jüngst in einem Artikel für Project Syndicate betonte, stammt die faktenpositivistische Geschichtsschreibung, bei der Tatsachen zusammengetragen und befragt werden, bis sich die geschichtliche Wahrheit herauskristallisiert, aus einer Zeit, als mögliche alternative Sichtweisen auf dieselben Tatsachen nicht als gleichwertig oder relevant betrachtet wurden. Kriege, Diplomatie, Herrscher standen im Zentrum. "Alles andere", so Skidelsky, "war keine Geschichte oder bestand nur aus kleinen Nebenhandlungen".

Dem gleichen Zeitgeist wie diese Geschichtsschreibung entsprangen auch viele der nun so umstrittenen Statuen. Sie werden als handfeste Manifestationen kolonialen und imperialen, im Falle der Sklavenhalter auch rassistischen Denkens wahrgenommen. Gegen dieses Denken definiert sich die postkoloniale und -imperiale, aber auch die antikapitalistische Geschichtsschreibung. Es ist also naheliegend, die Existenz bestimmter Statuen infrage zu stellen - beziehungsweise zu verteidigen -, weil sie so emblematisch und im Vergleich zu abstrakten historischen Debatten so handfest sind.

In vielen Fällen weckt man sie aber gerade dadurch aus einem Dornröschenschlaf, der sie zu einer Art urbanem Mobiliar hatte werden lassen. Statuen weisen nur dann über die eigene Substanz hinaus, wenn der Betrachter sie mit Bedeutung auflädt. Das geschieht paradoxerweise erst jetzt durch den Ruf nach ihrer Entfernung - der anderen Gelegenheit gibt, ihre Verteidigung als neue Front in einem vermeintlichen Culture War aufzumachen. Wie verworren die Situation, wie oszillierend die Bedeutung öffentlicher Monumente gerade in den Vereinigten Staaten mittlerweile ist, zeigte sich übrigens daran, dass jene, die am 6. Januar das Kapitol in Washington stürmten, sich aus derselben Gruppe rekrutieren, die in den Südstaaten konföderierte Mahnmale mit Gewehren bewachten.

In Deutschland wird mit vergleichsweise unaufgeregter Ernsthaftigkeit über umstrittene Monumente debattiert

Die Frage ist, welche Lehre man daraus hierzulande ziehen kann. Obwohl wir gerne Debatten aus der Anglosphäre übernehmen und - vielleicht auch aus einem falsch verstandenen Drang zu globaler Relevanz - alles dafür tun, sie auf unsere Verhältnisse herunterzubrechen, ist die Ausgangslage in Deutschland einfach eine andere. Die oft als zu routiniert geschmähte deutsche Erinnerungskultur ist weniger linear als die amerikanische und neigt weniger zu nostalgischer Verklärung als die britische, in der das imperiale Erbe spätestens seit dem Brexit auch wieder der Selbstvergewisserung dient.

Die Kolonialgeschichte wird derzeit zu Recht im Rahmen von Restitutionsdebatten auch in Deutschland wissenschaftlich aufgearbeitet. Dies wird vermutlich noch lange im Schatten der Verbrechen der Nazizeit geschehen. Über deren Bedeutung aber besteht trotz revisionistischer Töne de facto ein weitaus breiterer gesellschaftlicher Konsens als es ihn etwa in den USA über das rassistische Erbe der Sklaverei gibt. Ein gutes Beispiel für die vergleichsweise unaufgeregte Ernsthaftigkeit, mit der hier über umstrittene Monumente debattiert wird, war im vergangenen Jahr die Neuausschreibung für die Ergänzung eines Kriegerdenkmals in Düsseldorf, nachdem der ursprüngliche Entwurf, der für sich genommen schon eine Neueinordnung darstellte, als zu martialisch kritisiert worden war.

Dieser überformende, erläuternde Ansatz, wie gut er im Einzelfall auch immer gelingen mag, ist eine Alternative zum Abräumen, und eine legitime Art, sich vom diskriminierenden, ausbeuterischen Kontext von Bildwerken zu distanzieren. In den USA und Großbritannien ist der Streit aber bereits so eskaliert, dass das neue britische Gesetz eher wie eine weitere Finte der Regierung im Statuenstreit wirkt als wie ein Mittel zur Beruhigung der Lage.

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