Umstrittene Biografie über Joseph Beuys:Bauernschlauer Umgang mit Tatsachen

Joseph Beuys

Joseph Beuys im Jahr 1979.

(Foto: Hans Dürrwald/dpa)

Frisierte Daten, geflunkerte Anekdoten, skandalöses Geschwätz: Mit seinem unbescheiden betitelten Wälzer "Beuys. Die Biographie" hat Hans Peter Riegel in den Feuilletons der Republik einen Streit vom Zaun gebrochen. Riegels Heiligen-Entzauberung des genialischen Künstlers ist durchaus berechtigt, an manchem Punkt liegt der Biograf aber falsch.

Von Georg Imdahl

Würde Joseph Beuys heute noch leben wie sein Altersgenosse und ehemaliger Düsseldorfer Akademie-Kommilitone Günter Grass, die Nachfragen zu seinen Erinnerungen, Erklärungen und Verklärungen in eigener Sache fielen sicher bohrender aus als zu seinen Lebzeiten - so jedenfalls mutmaßte Beat Wyss vor einigen Jahren in seiner Polemik "Der ewige Hitlerjunge".

Kaum ein Künstler des 20. Jahrhunderts konnte seinen Interpreten so erfolgreich so viel an Sage und Legende, an privater Mythologie einflüstern wie der Erfinder des "erweiterten Kunstbegriffs".

Entsprechend anspruchsvoll stellt sich die Herausforderung dar, die Figur zu erfassen, schließlich hat Beuys nicht nur ein komplexes genialisches Œuvre hinterlassen, sondern neben einer faktischen Biografie auch eine selbstgestrickte, parallel-fiktive Vita, die er "Lebenslauf/Werklauf" nannte.

Sein berühmtestes autobiografisches Phantasma war die "Tatarenlegende", ein poetisches Traumbild über seinen Abschuss auf der Krim im Kriegsjahr 1943. Dieser hatte sich wirklich zugetragen, allerdings anders als von dem Künstler später weitergegeben.

Mit Fett und Filz das Leben gerettet

Als Faktum hatte Beuys einst die Fiktion jener Nomaden lanciert, die ihn nach dem Abschuss zwölf Tage lang fürsorglich und liebevoll mit Fett und Filz gewärmt und ihm damit das Leben gerettet hätten: Krieg als künstlerischer Initiationsritus. Doch war der Navigator und Bordfunker, der sich für zwölf Jahre bei der Wehrmacht verpflichtet hatte, in Wahrheit mit einer Gehirnerschütterung glimpflich davongekommen.

Schon 1980 hatte Benjamin Buchloh als eine der damals sehr wenigen kritischen Stimmen der Beuys-Rezeption, eine deutsch-typische Verdrängung hinter dem Tataren-Märchen vermutet.

Seither wurde das Husarenstück dieser Erzählung verschiedentlich auseinandergenommen - wie jetzt auch noch einmal in Hans Peter Riegels dickleibigem, nicht eben bescheiden betiteltem Wälzer "Beuys. Die Biographie".

Dichte Recherche über Dichtung und Wahrheit

Vorgespiegelt waren Riegel zufolge auch die sagenhafte Metallplatte im Kopf des Künstlers (als Folge des Fliegerdramas) und wohl auch die Orden, das Eiserne Kreuz und das Verwundetenabzeichen in Gold, die Beuys empfangen haben will, wie er in seiner Bewerbung um eine Professur an der Düsseldorfer Akademie 1961 für sich ins Feld führte.

Frisierte Daten und geflunkerte Anekdoten aus einer stilisierten Vita, überhaupt Beispiele für einen, sagen wir, bauernschlauen Umgang mit Tatsachen etwa zu Schulabschlüssen und naturwissenschaftlichen Studien finden sich zuhauf in Riegels Lebensbeschreibung.

Diese bekennt sich klar zum Ziel der Heiligen-Entzauberung. Es sagt sich so leicht, was auffallend häufig auch über dieses Buch zu hören ist: dass da so viel Neues eigentlich nicht drinstehe. Und zumindest dies stimmt ja auch - viele Fakten sind bekannt, und Riegel ist nicht der erste Biograf des rheinischen Künstlermissionars, der sich seinem Gegenstand dezidiert kritisch, wenn nicht gar mit Ressentiment nähert.

Doch manchmal ist es auch die Summe, die einem Buch Gewicht verleiht. Die Dichte von Riegels Recherche über die Spannbreite von Dichtung und Wahrheit in Beuys' Leben und Werk vor allem im ersten Teil seines Buchs spricht für sich.

Das gilt mehr noch für die Stringenz, mit der Riegel die Einflüsse von Rudolf Steiner (1861-1925) und der Anthroposophie auf Beuys nachvollziehbar macht. Höchst informativ synchronisiert der Autor immer wieder Äußerungen von Beuys und Steiner und führt vor Augen, wie ausgiebig jener diesen paraphrasierte oder zitierte (meist allerdings ohne ihn zu nennen).

Niemals auch nur ein Jota nachgegeben

Beuys wurde als Linker missverstanden, dabei schöpfte er unablässig aus dem Spiritualismus Steiners wie namentlich seiner "Dreigliederungslehre": Dies ist eine der wesentlichen Pointen Riegels. Mag sich der Autor auch etwas selbstgefällig in der Pose des Aufklärers über diese Einflusslinien gerieren, die längst anderswo nachgezeichnet wurden - man staunt, wie wortwörtlich Beuys seinen Spiritus rector nachbuchstabiert hat.

Grundsätzlich falsch liegt Riegel indessen in dem Irrglauben, er hätte Beuys damit die Maske heruntergerissen. Für das hypersensible künstlerische Werk kann davon schon gar keine Rede sein. Überhaupt möchte man dem Guru, der einst dem toten Hasen die Bilder erklärte, kaum unterstellen, er sei unfähig gewesen zu trauern.

Beuys' Œuvre ist ein Memento mori. Auch Riegel kann nicht umhin, die außerordentliche Zivilcourage des Künstlers zu würdigen, der als Professor an der Düsseldorfer Akademie mit seinen unbefristeten Verträgen stets auf der Kippe stand, niemals aber auch nur ein Jota nachgab in seinem Drängen auf einen unbegrenzten - letztlich grotesken - Zugang der Studenten zur Institution. Das kostete ihn 1972 den Job.

Bei allem Sendungsbewusstsein und den inbrünstigen Verheißungen einer "sozialen Plastik" hätte der Esoteriker seine Wirkungsmacht nicht erzielen können ohne die ihm eigene hermetische, zugleich aber auch expressive Symbolik in Form und Material, in der bizarren Semantik von Margarine, Honig und Blut, von Filz, Speck, ranzigen Würsten.

Maßgeblich gab der Aktionist zudem die Richtkräfte der jüngeren Gestaltungsformen von Performance, Installation, Environment vor. All dies lässt sich nicht wegargumentieren.

Zu Beuys' Rüstzeug im Endlospalaver einer "permanenten Konferenz", als die er die Akademie, das Museum und schließlich sein gesamtes Wirken und Leben auffasste, zählte die Provokation.

Heute würde er sich von selbst skandalisieren

Von Beuys sind - gelinde gesagt - befremdliche Äußerungen in großer Zahl dokumentiert. Im heutigen Medienfuror würden sie sich gleichsam von selbst skandalisieren. Wie eine Bemerkung von 1967 in einem "Ringgespräch" in der Kunstakademie.

Beuys sprach über einen Staat, der die "plastischen Fähigkeiten" der Menschen verkümmern lasse: "Diese Gesellschaft ist letztlich noch schlimmer als das Dritte Reich. Hitler hat nur die Körper in die Öfen geschmissen." Oha. Das "Prinzip Auschwitz", so Beuys an anderer Stelle, werde in Wissenschaft und Politik geradewegs fortgesetzt, wenn den Spezialisten die Verantwortung übertragen werde, während Künstler und Intellektuelle schwiegen: für Beuys eine "Art Hinrichtung im geistigen Bereich".

Ist das nun Unerschrockenheit? Heillose Verblendung? Oder einfach nur unsäglich?

Absonderliche und abstruse Zitate trägt Riegel akribisch zusammen. Hitler als Künstler und Aktionist, der seine schöpferische Fähigkeit nur leider "negativ gebrauchte", oder eine Schulzeit in den Dreißigern, bei der keine Rede davon sein konnte, "dass wir manipuliert worden sind": So sprach ein Künstler, der immerhin selbst eine eigene Universität und "ein Schulsystem aufbauen" wollte.

Nur - was für eines? Man weiß es nicht, und offenbar hatte Beuys selbst keine klare Vorstellung davon. Wohl aber suchte er die große politische Bühne und brannte darauf, einen Sitz im Bundestag zu erlangen - ob mit den Grünen, die er mitbegründet hatte, oder der von ihm ins Leben gerufenen "Deutschen Studentenpartei". Doch scheiterte er in der Politik und bei den Grünen gnadenlos, kaum verwunderlich bei seinem häufig verworrenen Gerede.

Anhand mehrerer Kontakte und Verbindungen bekundet Riegel, dass Beuys keine Berührungsängste gegenüber diversen Zeitgenossen hegte, deren politischer Leumund als belastet gelten durfte.

Monatliche Pension gegen exklusive Arbeiten

Ausführlich schildert er den ökonomischen Erfolg des Unternehmers Karl Ströher (1890-1977) und dessen Werben um die Gunst Hitlers in den späten Dreißigern. Mit dem einflussreichen Pop-Sammler ging Beuys 1967 einen langfristigen Deal ein: Ströher zahlte Beuys eine monatliche Pension, der wiederum überließ dem Sammler den "Block Beuys" sowie exklusiv neue Arbeiten. Soll Beuys damit diskreditiert sein? Riegel beschränkt sich in der Regel auf ein Raunen, um völkische Infiltrationen Beuys' vage zu insinuieren, was nicht zu ergiebigen Resultaten führt.

Manche von Riegels Argumentationslinien sind vorgezeichnet in der "erweiterten Beuys-Biografie" von Frank Gieseke und Albert Markert ("Flieger, Filz und Vaterland", 1996). Aber auch deren hochinteressante Recherchen über ikonografische Anleihen von Beuys bei den Symbolen des Kriegs schmälern sich selbst durch die irrige Annahme, dessen Werk ließe sich stigmatisieren und ein für allemal entlarven.

Gleichwohl braucht die Beuys-Rezeption mehr Studien, die ihrem Objekt nicht einfach huldigen, gar Paradigmen bemühen wie den Krieg als "Bildungserlebnis". Beuys vereinnahmte den Zweiten Weltkrieg, das Dritte Reich und Auschwitz als Gleichnis und Metapher.

Virtuos verlagerte er die Frage nach der eigenen Verantwortung auf eine metaphysische, spirituelle Ebene von Parabel, Läuterung und Reinigung, an der er ja, als umsorgter Schmerzensmann, schicksalhaft teilhatte. All dies ließ sich nur in einer moralischen Vogelperspektive darstellen. So erhob sich Beuys über die Geschichte, was durchaus der messianischen Rolle des Auserwählten entsprach, in der er sich selbst sah. Vorbild war auch darin der von ihm häufig sogenannte Dr. Steiner.

Hans Peter Riegel: Beuys. Die Biographie, Aufbau Verlag, Berlin 2013, 607 Seiten, 28 Euro.

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