Umgang mit dem Populismus:Liberaler Katzenjammer

Türkischer Polizist während einer LGBT-Demo

Selbst manche Liberale gehen davon aus, dass mit der Trump-Wahl das "Ende des Identity-Liberalismus" gekommen ist. (Bild: Türkischer Polizist während einer LGBT-Demo)

(Foto: AFP)

Minderheitenrechte dürfen nicht gegen die soziale Frage ausgespielt werden. Wer das versucht, um mehrheitsfähig zu sein, hat in der Auseinandersetzung mit den Populisten schon verloren.

Essay von Lothar Müller

Erinnert sich noch jemand daran, wie kurz vor dem Ende des Wahlkampfes in den USA hiesige Kommentatoren besorgt fragten, ob und wie es den Amerikaner gelingen könne, die aufgeworfenen Gräben wieder zuzuschütten? Damals war Donald Trump noch derjenige, der die Gesellschaft spaltete. Dann gewann er die Wahl, in Europa brach der Jubelchor der Rechtspopulisten aus, und nun richtet sich plötzlich der Vorwurf, die Gesellschaft zu spalten, gegen die Wahlverlierer.

Hillary Clinton und die Demokraten, so befand der Ideenhistoriker Mark Lilla in der New York Times, seien wegen ihrer Fixierung auf "diversity" gescheitert, wegen der ständigen Adressierung von Frauen und Minderheiten wie Afroamerikaner, Latinos, Lesben, Schwule, Transgender. Dafür hätten sie die Quittung bekommen, indem zwei Drittel der weißen Wähler ohne College-Abschluss und achtzig Prozent der weißen Evangelikalen für Trump stimmten, da sie sich von der Clinton-Kampagne ausgeschlossen fühlten. Die Demokraten müssten sich eingestehen, dass mit der Trump-Wahl das "Ende des Identity-Liberalismus" gekommen sei.

"All men are created equal" - aber wer gehört zu diesen Menschen und wer nicht?

Nicht nur in den USA, auch in Deutschland findet diese Lesart Zustimmung, auch in liberalen Blättern wie der Zeit. Und bei Abendeinladungen in Berlin trifft man auf eine Art Katzenjammer-Liberalismus, der mit der "Diversity" und der klassisch-liberalen Sorge um die Minderheiten hadert, um nur ja den erstarkenden rechtspopulistischen Bewegungen keine Angriffsfläche zu bieten. Es war aber aus guten Gründen nie eine liberale Idee, vitale Minderheitsinteressen zur Disposition zu stellen, um mehrheitsfähig zu werden. Schon gar nicht ist es nach der Trump-Wahl eine gute Idee.

Es klingt überaus vernünftig, vor "Diversitätsfixierung" zu warnen. Aber wer in die politische Arena steigt, sollte sich seine Begriffe nicht vorgeben lassen. Ein Liberalismus, der sich weismachen lässt, die Rücksicht auf "Diversität" gefährde die Universalität seines Gesellschaftsmodells zugunsten von Partikularinteressen, hat schon verloren. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Der Satz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, "that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights", hat erst durch die verschiedenen "Diversitäten", die ihn in Anspruch nahmen, seine Abstraktheit verloren.

Die Menschenrechte wie die Bürgerrechte sind in einem Prozess der gestaffelten Inklusion ausgestaltet worden. Und immer waren die Inklusionen umstritten. Erst waren "all men" nur die Männer; die Frage, ob zu den "all men" auch die Sklaven gehören, war ein vitales Konfliktmotiv im amerikanischen Bürgerkrieg, und später fielen weder das Frauenwahlrecht noch die Bürgerrechte der Afro-Amerikaner oder die Aufhebung von Schwulenparagrafen vom Himmel. "Das Wir wird größer", so könnte man mit dem amerikanischen Philosophen Richard Rorty diesen Prozess der sukzessiven Inklusion beschreiben.

Ein anderes Wort für Inklusion ist "Aufhebung von Ausschlüssen". Liberale tun gut daran, die "Diversität" in diese Perspektive zu rücken, statt sie mit Mark Lilla als Ausdehnung oder gar Überdehnung des politischen Kerngeschäfts erscheinen zu lassen. Sie sollten es sich nicht nehmen lassen, den Schwungradeffekt normativer Setzungen in Anspruch zu nehmen. Wenn die Formel "all men are created equal" einmal etabliert ist, lädt sie dazu ein, Ansprüche zu formulieren. Das Frauenwahlrecht ist dafür ein gutes Beispiel. Es konnte als "Ausweitung" des Wahlrechts erscheinen, aber die Kampagnen für das allgemeine und gleiche Wahlrecht lebten davon, dass sie ein Recht einklagten, das zu Unrecht vorenthalten wurde.

Respekt vor Minderheiten ist nicht nur etwas für Besserverdienende

Frauenwahlrechtskampagne

"Das Wir wird größer": Die Kampagnen für das allgemeine und gleiche Wahlrecht klagten ein Recht ein, das lange zu Unrecht vorenthalten wurde.

(Foto: SZ-Archiv)

In Deutschland war die Sozialdemokratie die einzige Partei, die sich das Frauenwahlrecht auf die Fahnen geschrieben hatte. Auch deshalb lässt es sich gut als Beispiel gegen den grassierenden Katzenjammer-Liberalismus ins Feld führen. Bei Mark Lilla und seinen deutschen Fürsprechern gehören die Frauen zur Fixierung auf "Diversity", die den Demokraten zum Verhängnis wurde, weil sie die harten ökonomischen und sozialen Interessen weißer Wählerschichten außer Acht ließ. Die Geschichte des Frauenwahlrechts in Deutschland ist jedoch ein starkes Argument gegen die Suggestion, man müsse sich zwischen "Diversity" und "sozialer Frage" entscheiden.

Und heutige Gesetzesvorlagen zur Verbesserung der sozialen Lage alleinerziehender Mütter oder die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe gehören nicht zum "Gedöns", sondern sind Teil des Prozesses gestaffelter Inklusion, in dem immer neue Ansprüche an die allgemeinen Rechtsnormen des Gemeinwesens gestellt werden. Wie darüber parlamentarisch und in der Öffentlichkeit künftig verhandelt wird, ist keineswegs ausgemacht. Denn wenn es eine liberale Illusion gab, die derzeit verfliegt, dann ist es die, der Prozess der gestaffelten Inklusion sei ein garantierter und vor allem unumkehrbarer Begleiteffekt der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften. Das ist er mitnichten; Rechte sind kassierbar, und was aus dem Zusammenspiel eines Präsidenten Donald Trump mit einem ihm gewogenen Supreme Court werden kann, ist unabsehbar.

Eben weil das so ist, kann es für die hiesige Debatte über Minderheitenrechte erhebliche Folgen haben, wenn sie unreflektiert Konstellationen des amerikanischen Wahlkampfs übernimmt. Ein Grundmotiv dort war, dass Donald Trump zugleich gegen das Establishment und gesellschaftliche Minderheiten polemisierte. Einer der Kollateralschäden des dadurch geschaffenen Klimas ist die Vorstellung, der Respekt vor Minderheiten sei etwas für Besserverdienende und die Installierung von Minderheitenrechten ein Elitenprojekt.

Das Frauenwahlrecht - eine Errungenschaft, Gedöns oder ein Nebenschauplatz?

Oder jedenfalls ein Schönwetterprojekt, das erst dann ansteht, wenn "im Zentrum der Gesellschaft" wirtschafts- und sozialpolitisch alles im Lot ist. Von Mark Lillas "Diversity"-Bashing ist es nicht allzu weit bis zu einer Neuauflage der neomarxistischen Theorie, die noch 1968 grassierte, zunächst sei der Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit zu lösen, dann erst die "Nebenwidersprüche".

Als Donald Trump bei einem Wahlkampfauftritt in South Carolina im November 2015 den körperbehinderten Journalisten Serge Kovaleski nachäffte, um ihn der Lächerlichkeit preiszugeben, war das nur ein kurzlebiger Mini-Skandal. Nun, da in der Trump-Exegese die "Hunde, die bellen, beißen nicht"-Theorie an Boden gewinnt, ist er vollständig vergessen. Jeder, der schon einmal mit Freunden oder Verwandten unterwegs gewesen ist, die im Rollstuhl sitzen, dürfte die Rigorosität, mit der in den USA auf Barrierefreiheit geachtet wird, schätzen. Und er wird es mit Missvergnügen sehen, wenn die Überführung des Rechtes auf Freizügigkeit ins Kleingedruckte in Gefahr gerät, als Element elitärer "Diversity"-Politik zu erscheinen.

Es gibt viele Gründe, dem "Diversity"-Bashing zu misstrauen. Dass es auf den ersten Blick überzeugend wirken kann, verdankt es seiner Koppelung mit der Kritik in sich selbst verkapselter "Identity". Lebensweltliche Beispiele solcher Verkapselungen kennt jeder aus eigener Anschauung oder aus aktuellen Romanen, Filmen oder Theaterstücken: Menschen, die ihre sexuelle Identität zum Nabel der Welt machen und sich schon diskriminiert fühlen, wenn jemand das nicht so wichtig findet, die vielen Beleidigten, die nur dann nicht beleidigt sind, wenn man die Identität, die sie für sich reklamieren, hofiert.

Diese Verkapselungstendenzen aber, wie Mark Lilla es nahelegt, allein den üblichen Verdächtigen der "Diversity"-Welt, den Schwulen, Lesben, Afroamerikanern, Transgender-Aktivisten etc. vorzuhalten, ist ein durchsichtiges Manöver. Denn man muss nicht ständig im Land der von Mark Lilla als "ausgeschlossen" apostrophierten weißen Trump-Wähler unterwegs sein, um zu ahnen, dass auch unter ihnen viele der Abkapselung in der eigenen Identität frönen. Die Diagnose "End of Diversity-Liberalism" wird hierzulande mit dem Ziel importiert, die Anhänger der liberalen Demokratie gegen den Rechtspopulismus zu wappnen.

Das ist aber eine riskante Strategie. Denn die liberalen Demokraten müssen sich auf eine lange Auseinandersetzung mit einem Gegner einstellen, den sie nicht als illegitimes Gegenüber werden exorzieren können. Er ist kein Alien, er ist in die Parlamente gewählt, agiert inmitten der demokratischen Institutionen. Ein Liberalismus, der mit Mark Lilla der "Diversity" abschwört, legt keine starke Rüstung an. Er beginnt die Auseinandersetzung mit einem Akt der Selbstschwächung.

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