Ulrike Ottinger wird achtzig:Immer auf der Suche

Ulrike Ottinger wird achtzig: Die Fotografin und Filmemacherin Ulrike Ottinger.

Die Fotografin und Filmemacherin Ulrike Ottinger.

(Foto: Julian Stratenschulte/picture alliance/dpa)

Zum achtzigsten Geburtstag der Filmemacherin und Künstlerin Ulrike Ottinger.

Von Susan Vahabzadeh

Am Anfang war eine himmelblaue Isetta. 1962, da war Ulrike Ottinger zwanzig Jahre alt und nach damals geltendem Recht noch nicht einmal volljährig, fuhr sie nach Paris, in der himmelblauen Isetta. So erzählt sie es am Anfang ihres Films "Paris Calligrammes", der selbst eine Art Kalligramm ist. Eine filmlange Erzählung aus ihrer Erinnerung, bebildert mit Fundstücken aus Archiven, Ausschnitten aus ihren eigenen Filmen, in denen sie das Erlebte später verarbeitete, neu gedrehtem Material und den Dokumenten, die sie selbst noch hat aus ihren Pariser Jahren. Ihre von den Bandes dessinées inspirierte Malerei, beispielsweise.

Ulrike Ottinger wurde am 6. Juni 1942 in Konstanz geboren, und in dem 2018 gedrehten "Paris Calligrammes" kriegt man schön mit, dass ihr die Soldaten in der französischen Zone die Frankophilie in die Wiege gelegt haben. Also ging sie, da war noch mehr vom Malen als vom Filmemachen bei ihr die Rede, sobald es ging nach Paris. Und sie nimmt uns in kleinen Filmschnipseln und Bildern und Chansons mit auf eine Zeitreise, mit "Il est cinq heures, Paris s'éveille" fängt es an. Im Buchladen von Fritz Picard treffen sich Immigranten und Pariser Intellektuelle, und die junge Ulrike Ottinger darf nicht nur rein, sie darf mitreden. Die Vergangenheit war eben manchmal lange nicht so restriktiv, wie man sie sich vorstellt.

Die Pariser Unruhen im Mai 1968 waren ihr suspekt

Warum die Sechziger mit Paris in ihrer Mitte ein Sehnsuchtsort geblieben sind, das sieht man in ihrem Film, in dem alles quirliger Austausch ist, der Kampf gegen die Gespenster des Nationalsozialismus und die beginnende Auseinandersetzung mit der französischen Kolonialgeschichte fließen ineinander. Ein Geist, den sie in den neu gedrehten Aufnahmen eben nicht in den längst gentrifzierten Straßenzügen von damals wiederfindet, sondern in Riesenfrisiersalons in heutigen Pariser Migranten-Vierteln.

Es waren entbehrliche Zeiten, im Café de Flore durfte sie sich den ganzen Tag an ihrem Kaffee festhalten und Simone Signoret beim Drehbuchlesen zuschauen, und in den Dachkammern hat sie erst einmal die Geräusche der erwachenden Stadt nicht einordnen können, bis sie kapierte, dass Paris im Morgengrauen gewaschen und für den Tag herausgeputzt wird. Es ist fünf Uhr, Paris wacht auf - wie in dem Chanson.

1969 ist Ulrike Ottinger nach Deutschland zurückgekehrt, sie ist der Kunst treu geblieben und hat Filme gemacht, oder eher: filmische Experimente. "Bildnis einer Trinkerin" (1979) mit griechischem Chor etwa, oder "Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse" (1984), in dem nur Frauen spielen, von Veruschka von Lehndorff und Tabea Blumenschön bis Barbara Valentin.

"Paris Calligrammes" ist dazu eine Entstehungsgeschichte, die Experimentierfreude, die Aufbruchstimmung und die prekären Verhältnisse gehören irgendwie zusammen. Einmal, am Anfang des Films, zeigt sie Seiten aus Fritz Picards verschollen geglaubtem Gästebuch, in dem sich Hans Arp und Raoul Hausmann und Marcel Marceau gleichermaßen verewigt hatten, und beschreibt, wie Situationisten und Dadaisten und Intellektuelle unterschiedlicher politischer Überzeugungen und nationaler Herkunft zusammenkamen und einen Dialog wieder aufgriffen, den der Krieg unterbrechen, aber nicht hatte vernichten können. Es schien dort die Hoffnung auf, sagt sie aus dem Off, "eine brutal aus den Angeln gehobene Welt wieder zusammenzubringen". Ulrike Ottinger, die am 6. Juni achtzig Jahre alt wird, waren die Unruhen im und nach dem Mai 1968 suspekt, das Ende des quirligen Austauschs, überhaupt: das Ende von etwas, nicht sein Anfang. Sie ist weitergezogen, immer auf der Suche nach einem neuen Mittendrin.

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