Als Ulrich Rasche 2016 am Münchner Residenztheater "Die Räuber" herausbrachte, war das ein Knaller: Schillers Jugendwerk als düsterer Gruppenradikalisierungsprozess, chorisch-dynamisch vollzogen auf zwei gigantischen Laufbändern, die sich hoben und senkten und drehten wie monströse Technosaurier. Eine so monumentale und komplexe Bühnenmaschinerie war das, dass die Inszenierung nicht in Berlin beim Theatertreffen gezeigt werden konnte - es fand sich dort kein Theater, auf dessen Bühne das stählerne Hydraulikwunderding, das eine besonders große Podienfläche erfordert, gebaut werden konnte. Jedenfalls nicht ohne einen Mordsaufwand. Was in einer Zeit der Austauschbarkeit, der marktgängigen Gastspiele und Koproduktionen auf den ersten Blick wie ein Manko für das Bayerische Staatsschauspiel wirkt, ist genauer betrachtet ein Alleinstellungsmerkmal von Martin Kušejs Theater: Wir können was, was ihr nicht könnt. Wer es sehen will, muss kommen.
Ulrich Rasches Bühnenbilder bringen viele Häuser "an ihre Grenzen und darüber hinaus", wie der Regisseur selber sagt - und beklagt. Rasche ist der formstrenge Exerziermeister des deutschen Theaters. Der mit den mächtigen Laufbändern, Walzen ("Dantons Tod") und Drehscheiben ("Woyzeck", "Die Perser", "Das große Heft"). Auf denen lässt er seine Schauspieler im Sprechschritt aufmarschieren und im rhythmischen Dauerlauf Texte skandieren, begleitet von live erzeugter Minimal-Music und einem meist sehr martialisch anmutenden Chor. Die kolossalen Bühnengebilde, auf denen das stattfindet, können an den meisten Häusern gar nicht selber gebaut werden. Der Auftrag muss an ein Ingenieurbüro outgesourct werden, und dann wird das extern gefertigt. Nicht einmal das Wiener Burgtheater kann so eine Rasche-Bühne selber stemmen; auch das Deutsche Theater Berlin muss den Bühnenbau größtenteils fremdvergeben - Häuser, an denen der gefragte Regisseur demnächst inszenieren wird.
Am Freitag hat Hofmannsthals "Elektra" in München Premiere - nach sehr langem Vorlauf.
Anders das "Resi". Am Münchner Residenztheater wird alles hausgemacht. "Ich bin sehr stolz auf unsere technischen Abteilungen", sagt der Technische Direktor Thomas Bautenbacher, ein höflicher Salzburger, der mit den Händen die Merkel-Raute bildet. "Wir haben ganz tolle Werkstätten." Und sie haben Paul Demmelhuber.
Der 33-jährige Maschinenbauingenieur in Jeans und Ringelshirt ist festangestellter Konstrukteur am Haus, ein erfinderischer Tüftler, der sagt: "Sobald sich etwas bewegt, bin ich dabei." Rasche nennt ihn "den Gustave Eiffel von München". Demmelhuber hat die gewaltige "Räuber"-Maschinerie mit den Förderbändern konstruiert, ganz so, wie sich das Rasche, der die Ideen für seine Bühnen selber entwirft, im Pappmodell vorgestellt hatte. Das sei eine echte Herausforderung gewesen, räumt der scheue Bastler ein. Rasche-Bühnen haben entsprechend lange Vorlaufzeiten. Auch die Bühne für Rasches neue Münchner Arbeit, Hugo von Hofmannsthals "Elektra" - Premiere ist an diesem Freitag -, hat Demmelhuber ausgetüftelt.
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Wieder so ein elektrisch angetriebenes Stahlungetüm, das sich auf der normalen Drehbühne auch noch selber dreht und bewegt. Es schaut aus wie ein Riesenteleskop zur Ortung Außerirdischer, das von einem darüber hängenden XXL-Lampenschirm geschluckt zu werden droht. Na ja, so ungefähr. Thomas Bautenbacher und seine Leute drücken das natürlich fachgemäßer aus. Neben der Geheimwaffe Demmelhuber hat der Technische Direktor noch seinen Stellvertreter Michael Brousek und den Technischen Leiter Philipp Bösch mitgebracht. Zu viert demonstrieren sie ihr "Baby", wie sie es nennen. Es ist ein Riesen-Resi-Baby, für dessen einzelne Glieder sie spezielle Namen vergeben haben.
Den mit Kettenzügen im Schnürboden verankerten Stahlzylinder nennen sie "Plafond", er ist aus gebogenem Vierkantrohr, mit Lochblech belegt und kann unterschiedliche Neigungen annehmen. In seiner Mitte hängt wie eine Monsterdrohne ein Scheinwerferkranz. Die sich drehende Konstruktion darunter, auf der Katja Bürkle (als Elektra), Juliane Köhler, Lilith Häßle, Thomas Lettow sowie die acht Choristen sich bewegen werden - bei Rasche müssen sie ja immerfort laufen -, besteht aus einer "Schräge" und aus einer fahrbaren "Kassette". Diese "Kassette" ist ein kreisrundes Mittelstück, das vor und zurück fahren kann, und in diese "Kassette" integriert sind noch einmal ein Drehring und eine Drehscheibe, jeweils ausgelegt für eine Last von 750 Kilogramm, in Schwung gebracht durch Kegelstirnradgetriebe. Reibrad, Zahnkranz, vier Steuerungen für vier Antriebsgruppen - alles klar?
"Soo dick" ist die "Gefährdungsbeurteilung". Einmal passierte trotzdem ein Unfall.
Die einzelnen Bauteile von Anfang an mit festen Begriffen wie "Plafond" oder "Kassette" zu belegen und diese Terminologie den Leuten einzuhämmern, sei unerlässlich, erklären die Spezialisten. Würde auf einer solchen Bühne, wo sich überall etwas drehen kann, jemand einfach nur "Fahr die Scheibe!" rufen, könnte das übel ausgehen. "Überhaupt", sagt Bautenbacher, "muss an oberster Stelle die Sicherheit der Schauspieler und Mitarbeiter stehen." Daher wird während des gesamten Entwicklungs- und Probenprozesses eine "Gefährdungsbeurteilung" erstellt, die "soo dick ist", Bautenbacher deutet mit den Fingern vier Zentimeter an. "Wir verbringen sehr viel Zeit damit, uns zu überlegen, was alles passieren könnte", sagt Michael Brousek: Was, wenn ein Darsteller stolpert und die anderen mitreißt? Wenn es Kollisionen gibt? Was, wenn der "Plafond" unbeabsichtigt in Schwung gesetzt wird und die Schauspieler wie eine Abrissbirne von der "Schräge" räumt?
Gefährdungen gibt es viele. Sie alle müssen ausgeschlossen werden. So herrscht zum Beispiel Anschnallpflicht. Die Darsteller tragen Sicherungsgurte, die mit Spezialkarabinern auf der Spielplatte befestigt werden. Jeder darf nur seinen eigenen Karabiner öffnen, zum Teil sind sie farblich gekennzeichnet. Dem Bühnenmeister obliegt es, die Fahrten der Gesamtkonstruktion "dauerhaft zu beobachten", dazu gibt es weitere "Sicherungsposten": Leute, die genau hinschauen und notfalls mit einem Schalter die Fahrt stoppen können. Und selbstverständlich muss die ganze Anlage vom TÜV oder einem Prüfsachverständigen vor der ersten Inbetriebnahme abgenommen werden.
Einmal ist trotzdem ein Unfall passiert. Bei den Proben zu den "Räubern" stürzte der Schauspieler Marcel Heuperman hinten von einem der meterhohen Bänder hinab und verletzte sich so schwer, das er aus der Produktion aussteigen musste. Polizei, Staatsanwaltschaft, Landesunfallkasse - wenn so etwas passiert, muss der Technische Direktor als Verantwortlicher genau nachweisen können, dass die "Sicherheitsketten" eingehalten wurden, sonst kommt er in Teufels Küche. Der "Räuber"-Unfall war nicht technisches, sondern "menschliches Versagen", wie Bautenbacher sagt, heißt: Da ist einer falsch gelaufen. "Aber so etwas ist natürlich ein Schock."
Sechs Stunden zum Zusammenschrauben, drei Stunden für Licht und Ton.
Nicht nur die Sicherheitsfrage muss am Anfang geklärt werden, die Frage lautet grundsätzlich erst mal: Ist so eine Riesenproduktion haustechnisch überhaupt umsetzbar? Oder wie Bautenbacher es formuliert: "Kriegt man die in den Spielplan hineingebacken? So ein Ding baut man ja nicht in drei Stunden auf." Wahrlich nicht. Philipp Bösch braucht mit seinen Bühnentechnikern sechs Stunden, bis alles zusammengeschraubt ist. Hinzu kommen noch weitere drei Stunden für die Beleuchtung, die Toneinrichtung und den Soundcheck, macht neun Stunden, also einen Arbeitstag. Das bedeutet: Die Bühne ist am Tag einer "Elektra"-Vorstellung sowie am Vormittag danach belegt, da kann nicht geprobt werden. Das muss sich ein Haus leisten können; es erfordert eine geschickte Disposition. Vielleicht gibt es dafür im Gesamtspielplan sogar ein Stück weniger.
Leisten können muss man sich so eine Rasche-Bühne vor allem auch finanziell. "Aber über Geld reden wir nicht", sagt Bautenbacher, und auch die Resi-Pressestelle und der Regisseur machen zu den Kosten keine Angaben - außer, dass es sich hier "nicht um das teuerste Bühnenbild" handle. Das teuerste war die Konstruktion für "Die Räuber", die Kosten lagen unter 200 000 Euro, mehr erfährt man nicht.
Um die Inszenierung proben zu können, gibt es das Bühnenbild noch ein zweites Mal. Ernsthaft. Zwar nicht ganz so opulent und auch nicht ganz aus Stahl - die provisorische "Kassette" etwa ist aus Holz und wird mit Handwinden gefahren, und der "Plafond" ist nur ein 50 Zentimeter hoher Ring in der Decke -, aber doch so weit ähnlich, dass Einzelszenen gut geprobt werden konnten. Dafür musste im Probenzentrum des Theaters an der Schwere-Reiter-Straße eine Probebühne "annektiert" und eine "Montagehalle umgewandelt" werden, aber irgendwie ging's. Die Resi-Mannschaft ist in diesen Dingen ausgesprochen kreativ. Umso mehr hofft die Truppe auf das von der Politik in Aussicht gestellte neue Probebühnen- und Werkstättenzentrum, das vieles erleichtern würde. "Von unserem Kerngeschäft, dem Dekorationsbau, hat sich unser Beruf in den letzten Jahren doch sehr entfernt", sagt Bautenbacher. Moderne Produktionen verlangen immer kompliziertere Sonderanfertigungen und Konstruktionen, nicht nur, wenn ein Ulrich Rasche inszeniert.
Weil der Aufbau so aufwendig ist, ist es sinnvoll, die "Elektra" an zwei Tagen hintereinander zu spielen. Danach wird das Gebilde aus neun Tonnen Stahl abmontiert, in seine Einzelteile zerlegt und mit Lastwagen nach Poing verbracht. Im oberbayerischen Poing ist das Dekorationslager des Residenztheaters. Dort ruht das Material. Bis die Illusionsmaschinerie Theater die nächste Runde dreht.