Ulf Erdmann Zieglers Roman "Eine andere Epoche":Regieren und reflektieren

Deutschlandfest der SPD - Per Steinbrück

Der Berliner Betrieb jener Jahre: Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hält auf dem Deutschlandfest der SPD im Jahr 2013 eine Rede.

(Foto: Hannibal Hanschke/picture alliance / dpa)

Vor zehn Jahren stand es schlecht um die heutige Regierungspartei. So schlecht, dass am Ende immerhin ein guter Schlüsselroman wie Ulf Erdmann Zieglers "Eine andere Epoche" rauskommt.

Von Christoph Bartmann

"Eine andere Epoche", der Titel von Ulf Erdmann Zieglers Roman, kann einen ins Grübeln bringen über Fragen der politischen Periodisierung. Gemeint sind die noch nahen und doch schon fernen Jahre zwischen 2011 und 2013. Ist das noch unsere erweiterte Gegenwart, auch dann, wenn die Themen und Aufregungen jener Jahre etwas verblasst sind? Oder ist das tatsächlich schon ein anderes Zeitalter, in dem die Sorgen unserer Tage noch nicht erwacht waren oder wir uns das zumindest einbildeten?

Zieglers Roman blättert die politische Chronik dieser Jahre noch einmal auf, und natürlich erinnern wir uns: In Eisenach werden zwei Männer tot in einem ausgebrannten Wohnmobil entdeckt. Im NSU-Untersuchungsausschuss profiliert sich ein SPD-Abgeordneter, der bald darauf verdächtigt wird, kinderpornografisches Material erworben zu haben. Ein anderer SPD-Kollege kommt wegen Besitzes von Crystal Meth in die Schlagzeilen. Der Bundespräsident gerät wegen Verdachts der Vorteilsnahme unter Druck und tritt zurück. In Berlin regiert eine schwarz-gelbe Koalition vor sich hin. Was macht die SPD? Davon erzählt dieser Roman. "Alle Kandidaten vor und nach Schröder sind verbrannt worden", konstatiert einmal eine parteinahe Politikberaterin. Dass die SPD überhaupt einen Kanzlerkandidaten aufstelle, zeuge von Wunderglauben. Aber 2013 soll alles besser werden.

In Zieglers Roman geht es um eine Handvoll Menschen im Berliner Betrieb jener Jahre. Ihre Namen sind so auffällig wie ihre Biografien. Andreas "Andi" Nair, aufstrebender SPD-MdB mit sicherem Wahlkreis nahe Hannover, hat Wurzeln in Südasien. Florian "Flo" Janssen, den liberalen Vizekanzler, hat man als Kind aus Saigon gerettet. Und Wegman Frost, die Zentralfigur, Nairs wissenschaftlicher Mitarbeiter, verdankt seinen Namen einem "Native American" aus einer Reservation im Nordwesten der USA. Kennengelernt haben sich die drei daheim in Schaumburg-Lippe, unweit vom Geburtsort Gerhard Schröders.

Ulf Erdmann Zieglers Roman "Eine andere Epoche": Ulf Erdmann Ziegler: Eine andere Epoche. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 254 Seiten, 24 Euro.

Ulf Erdmann Ziegler: Eine andere Epoche. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 254 Seiten, 24 Euro.

Von den hier erzählten politischen Werdegängen interessiert Ziegler der unspektakulärste am meisten - der des wissenschaftlichen Mitarbeiters. Ein Grund mag darin liegen, dass man ohne Mandat und ohne Öffentlichkeit die Dinge besser beobachten kann. Von diesen Beobachtungen des Wegman Frost an sich selbst und seiner Umgebung lebt der Roman. Wer nicht regiert, hat mehr Zeit zum Reflektieren. In Wegman Frost erschafft sich Zieglers reflexives, essayistisches Erzählen eine Figur, die vieles sieht, ohne dabei gesehen zu werden. Anders als die agierenden Politikerinnen und Politiker verfügt diese Figur sogar über ein Privatleben, ja über ein ausgeprägtes Eigenleben, dem wiederum im Roman viel Raum gegeben wird.

Was ist das nun also: ein SPD-, gar ein SPD-Schlüsselroman, mit vielerlei klugen Einsichten in den Betrieb, bestens geeignet als Handreichung der Bundeszentrale für Politische Bildung? Das vielleicht auch, aber zugleich und noch mehr geht es hier um das komplexe Innen- und Familienleben eines vierzigjährigen berufstätigen Mannes von "vager Herkunft", wie er es selbst bezeichnet. Wie Ziegler diese beiden Sphären füreinander durchlässig hält, ist sein Geheimnis.

Zieglers Figuren sind Ausnahmeerscheinungen. Leider versickert ihr Talent in der Politik

Diesseits oder jenseits der zeithistorisch nachprüfbaren Sachverhalte widmet sich der Roman den "inner workings" seiner Figuren. Ziegler lässt Raum für auch wieder produktive Träume und Absenzen. Zwar sind diese Betriebsmenschen mit allen politischen, rhetorischen und intellektuellen Wassern gewaschen, aber dann versetzt sie eine akute innere Befindlichkeit in einen auch wieder anregenden Dämmerzustand. Das Einzige, das Zieglers Figuren, angefangen mit Wegmans frühreifer Ziehtochter (in spe) Ellie, definitiv nicht können, ist: nicht klug sein.

Das führt dann ganz gelegentlich zu Übertreibungen, etwa wenn Wegmans Freundin und Lebensgefährtin (in spe) Marion, eine ebenfalls superkluge Immobilienmaklerin, auf die zugegeben etwas feuilletonistische Frage, in welcher Zeit man denn gerade lebe, einer leisen oder einer lauten, wie folgt antwortet: "Wir leben in einer Zeit der Finanzen, aber nicht des Geldes; einer der Kommunikation, aber nicht des Wissens." Zu derlei Einsichten von Luhmann'schen Dimensionen sind Zieglers Figuren rund um die Uhr fähig.

Solche Augenblicksballungen von Intelligenz und Eloquenz mögen auch im Berlin der Jahre nach 2011 eher unwahrscheinlich gewesen sein, aber Ziegler zieht die Berliner politische Blase hoch auf ein anderes, auf sein Niveau. Weder wird bei ihm dumpf moralisiert noch gar satirisch auf den Betrieb hinabgeschaut. Im Gegenteil, der Roman demonstriert, wie viel Intelligenz, manchmal ganz vergeblich, ins Regieren und auch schon in die Hoffnung aufs Regieren investiert wird.

Die andere Epoche, wenn man sie so nennen will, hat kein Ende, es sei denn die Bundestagswahlen 2013, bei der die SPD mit Peer Steinbrück den nächsten Kandidaten erfolglos in die Wahlen schickt. Auch für den Abgeordneten Nair ist aus den bekannten Gründen Schluss, und Frost, der wissenschaftliche Mitarbeiter, müsste um seine Weiterbeschäftigung fürchten, wenn er nicht ohnehin schon ganz andere Pläne hätte. Was heißt Pläne? Die Ereignisse überstürzen sich, in der Politik und im Familienleben, aber fast sieht es aus, als könnte Zieglers Protagonist doch noch seinen (ihm selbst nicht ganz nachvollziehbaren) Traum erfüllen und fortan "ein leichtes Leben" führen.

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