Süddeutsche Zeitung

Ukrainisches Tagebuch (XLV):Nah an der Grenze

Auf einer Reise mit Hilfslieferungen gelangt unsere Autorin nach Nowoselyzja, einem Ort, der früher zweigeteilt war.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Am Mittwoch, den 22. Juni, kommt etwas Abwechslung in unsere "Hilfsgüter-anschaffen-sortieren-ausgeben"-Routine. Dank der Bekanntschaft mit der Autorin Tanja Kinkel bekamen wir von "Brot und Bücher e. V." eine zweckgebundene Spende für Kinder. Meine Idee war, dass wir ein paar ländliche Gemeinden nach Bedarf fragen. Denn es gibt kaum einen ländlichen Ort, ein Dorf in der Region, wo es keine Geflüchteten geben würde, überall sind auch Familien mit Kindern. S. war im vorigen Jahr für ein Projekt zuständig, an dem die Vertreterinnen und Vertreter der regionalen Gemeindeverwaltungen teilnahmen, und hat entsprechende Kontakte. Die Gemeindereform, auf Ukrainisch Dezentralisierung, war eine der erfolgreichsten Umstrukturierungen seit 2015. Sie bedeutet eine viel größere Verantwortung für lokale Beamte und Manager, aber auch viel mehr Chancen, die deutlich gestiegene Finanzierung für den lokalen Bedarf zu verwenden.

Nicht wenige Gemeinden, auch in der Region Czernowitz, konnten bereits Erfolge vermelden; nun stehen sie vor den Herausforderungen, auf die sie genauso wenig wie der Staat vorbereitet waren. S. sprach drei Gemeinden an: Woloka, Nowoselyzja und Mamajiwzi. Vereinbart wurde, dass sie uns einen Kostenvoranschlag samt einer Bedarfsbeschreibung vorlegen und wir direkt bezahlen. Unser Ziel an diesem Vormittag ist Nowoselyzja, ein circa 30 Kilometer östlich der Stadt gelegener Ort.

Nowoselyzja ist dreisprachig, die Jüngeren tendieren zum Rumänischen

Historisch sehr interessant, weil durch das Städtchen eine Grenze verlief: zwischen dem österreichischen und dem russländischen Reich. Ein Teil gehörte dem Kronland Bukowina an, ein anderer Bessarabien. Noch heute wird vom "österreichischen" und "russischen" Nowoselyzja gesprochen. Der Ort ist dreisprachig, mehr als 30 Prozent der Einwohner sind Rumänen - oder Moldauer, die Identitätsbestimmung ist hier nicht einfach. Die Menschen im historischen Bessarabien, von dem ein kleiner Teil zur heutigen Region Czernowitz gehört, vor allem die ältere Generation, bezeichnen ihre Sprache und Identität als Moldauisch und nicht als Rumänisch. Die Jüngeren tendieren eher dazu, sich mit dem Rumänischen zu identifizieren. So auch unsere Kollegin im International Office K., die aus dieser Gegend stammt. Auf meine Frage nach der Selbstzuschreibung antwortete sie einmal, sie würde sich als rumänisch bezeichnen - ihre Eltern dagegen sagen, sie seien Moldauer und sprechen Moldauisch. Alles spannend und komplex. Die Bürgermeisterin, die uns empfängt, spricht fließend Ukrainisch, aber ihre Muttersprache ist zweifellos eine romanische, ob nun Moldauisch oder Rumänisch.

Wir gehen gemeinsam in eine Schule, die jetzt in eine Massenunterkunft umgewandelt ist. Ein relativ neues, schönes dreistöckiges Gebäude, im Erdgeschoss stapeln sich im Flur Hilfsgüter, darunter viele Windeln und Kleidung, auch warme Sachen. Hier wohnen Familien mit circa 30 Kindern, und ein Teil unserer Spende wandert in die Errichtung einer Dusche und die Anschaffung von zwei Durchlauferhitzern. Die Verbesserung der hygienischen Bedingungen sei dringend notwendig, sagt der stellvertretende Bürgermeister S., bisher hatten sie nur eine improvisierte Dusche, das war ein großes Problem. Die Gemeinde sorgt dafür, dass in der Schulkantine zweimal am Tag warmes Essen gekocht wird, aber für vieles andere fehlt das Geld. Die Duschkabine wird gerade geliefert, die Geräte müssen wir noch bezahlen, also fahren wir zum Baumarkt.

Auf dem Weg zum Auto frage ich den Stellvertreter nach dem "russischen" und "österreichischen" Nowoselyzja. Er grinst und sagt, beinahe hätten wir die Grenze passiert, gleich neben der Schule ist ein Café, das "Alter Zoll" heißt. An alten Gebäuden sieht man schon sehr deutlich, in welchem Reich sie gebaut wurden. Schade, dass wir keine Zeit für eine Stadtführung haben, mich würden auch die Wandmalereien in der alten Synagoge interessieren, die vor etwa sieben Jahren gefunden wurden. Vielleicht ein anderes Mal, denke ich, weiß aber genau, dass es nicht bald Zeit für gemütliche Stadtführungen geben wird. Wir müssen nach der Bezahlung im Baumarkt zurück in die Stadt. Am Nachmittag steht das Treffen mit dem stellvertretenden Bürgermeister einer anderen Gemeinde an.

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