Ukrainisches Tagebuch (XXIII):Heulen kann ich mir nicht leisten

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Oxana Matiychuk arbeitet an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Von Schwermut, Galgenhumor und der Hoffnung, Horrormeldungen mögen übertrieben sein. Das Tagebuch aus der Ukraine.

Der Krieg trägt unter anderem dazu bei, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer vieles besser kennenlernen: zum Beispiel die Geografie und die Topografie ihres Heimatlandes. Es wäre schön, wenn diese erweiterten Kenntnisse nicht mit der Erweiterung des Vorstellbaren über die Kriegsverbrechen einhergehen würden. Nun lerne ich Neues über einen Ort, der im öffentlichen Diskurs noch nicht so präsent ist. Wassyliwka im Gebiet Saporischja, wo sich eine bedeutende architektonische Sehenswürdigkeit befindet: das Architekturmuseum "Das Gutshaus von Popov". Ein Palastkomplex aus den 1860er Jahren. Die Grundinformationen weiß ich schon, als ich meine neuen Bekannten aus diesem Ort treffe. Das junge Ehepaar O. und M. brachte den Sohn zum Bogenschießen in die Stadt und kommt bei mir im Büro vorbei, um das Geschirr abzuholen. Wir unterhalten uns kurz, der erste Schock von der durch die freiwilligen Helfer vermittelten Wohnung ist überwunden. Darin lebte eine Frau mit zwei Katzen, die ein Alkoholproblem gehabt haben muss, überall standen Gläser und Flaschen, geputzt wurde wohl seit Jahren nicht mehr. Nun ist die Besitzerin nach Polen zu ihren Verwandten gezogen, und die Kleinfamilie darf die Zweizimmerwohnung immerhin kostenlos nutzen, nur die Nebenkosten müssen bezahlt werden. Das ist nach einem Monat Massenunterkunft in einer Sporthalle beinahe ein Luxus.

Schade um die Renovierung, die Russen demontierten die neuen Klomuscheln.

Sie erzählen über ihre Heimat und den Kriegsbeginn. O. hat am 24. Februar Geburtstag, in diesem Jahr war er unvergesslich. M.s Geburtstag war am 1.März, da saßen sie schon im Keller, weil der Ort beschossen wurde. Kurz darauf gelang ihnen die Flucht mit dem eigenen Auto, Wassyliwka war schon besetzt. M. sagt, der Palast in Wassyliwka und die Residenz in Czernowitz seien sich ein wenig ähnlich, wegen der roten Ziegelsteine. Man hat in den vergangenen Jahren versucht, den Komplex Stück für Stück zu renovieren. O. wirft ironisch ein, es ist schade um das Geld, die Russen hätten die Klomuscheln, keine neuen wohlgemerkt, demontiert. Ich muss lachen, der Klau von Klomuscheln durch die "Befreier" scheint ein Running Gag geworden zu sein, und das nicht erst jetzt. Vielleicht wäre dieses Phänomen als ein kulturanthropologisches Forschungsthema interessant? Der Raub von Wertgegenständen, Elektrogeräten, Klamotten und vielem mehr lässt sich ja noch erklären. Warum aber Klomuscheln, die zum üblichen Zweck bereits xxxx-Mal benutzt wurden? Die Geheimnisse mancher russischen Seelen sind wahrhaft unergründlich. Galgenhumor, wie wir ihn hier jeden Tag haben.

Wir verbleiben dabei, dass O. und ich uns demnächst wieder treffen, um die Medikamente für die Menschen in Wassyliwka zu besorgen. Für den Sohn habe ich leider nichts Spezielles - doch dann fällt mein Blick auf die Tüte, die mein Kollege S. mir heute als Ostergeschenk von seiner Mutter aus Italien brachte. Ein großer Panettone, wenigstens etwas. Am späten Abend kommt noch eine Nachricht von O. "Vielen Dank für die vielen Sachen, Tee tranken wir heute aus Tassen, gekocht wird morgen, heute putzte ich noch. Die Pfanne ist ein Traum, ich wollte meinem Mann eine zum Geburtstag schenken, weil er gern kocht. Vom Sohn ein extra Dankeschön für das süße Geschenk, er konnte es unterwegs nicht erwarten, vom Panettone zu probieren. Sie sind eine Fee."

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Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Das Schreckensszenario Mariupol ist jetzt schon jenseits des Erträglichen.

Es sind schöne Zeilen, eine Fee zu sein fiel mir sehr leicht, aber Freude kann ich nicht wirklich empfinden, es ist eine Schwermut, die sich über mich legt, es ist zum Heulen, aber das kann ich mir nicht leisten, also kurz geantwortet und Messenger zu. Die Abendnachrichten aus Mariupol machen diese Schwermut noch düsterer, angeblich wurden dort Chemiewaffen eingesetzt, den Namen dieser Stadt zu hören ist, wie eine Wunde immer wieder aufreißen. Ich weiß nicht, wie meine Gäste R. und I. es aushalten. Vielleicht lesen sie nicht so viele Nachrichten. Nicht, dass ich alles, was gemeldet wird, glaube, aber das Schreckensszenario Mariupol ist jetzt schon jenseits des Erträglichen. Zumal ich heute von der Kollegin L. hörte, dass der Mann ihrer Nachbarin, jetzt als Kämpfer in Mariupol, schrieb, er müsse sich wohl verabschieden, die Lage sei fast aussichtslos. Ähnliches liest man in vielen Meldungen. Das zeichnete sich natürlich schon lange ab, spärliche offizielle Informationen konnte man so deuten, selbst wenn man nicht viel Ahnung von Militärstrategie hat. Das einzige, was ich mir wünsche, ist: Mögen diese Horrormeldungen übertrieben sein.

Die Literaturwissenschaftlerin und Kulturmanagerin Oxana Matiychuk. 2021 erschien eine Graphic Novel von ihr über das Leben der Dichterin Rose Ausländer.

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