Ukrainisches Tagebuch (XXII):Gut gerüstet?

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Oxana Matiychuk arbeitet an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Über Besuche, Abschiede und Hilfe mitten im Krieg. Und die Frage: Ist es normal, dass wir uns nicht mehr schuldig fühlen, weil wir an einem sicheren Ort sind?

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Es steht Besuch an: B., unsere Sprachassistentin beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), kommt. Sie ist gebürtig aus Rumänien und wohnt zurzeit in Bukarest, macht ihren Online-Unterricht in Deutsch als Fremdsprache weiter und engagiert sich in Rumänien auch anderweitig für unsere Belange. Eigentlich sollte sie nicht in die Ukraine reisen, aber sie möchte uns, das Büro, die Universität, die Stadt wiedersehen. Ihr Bruder, ein Polizist, bringt sie mit dem Auto direkt nach Czernowitz.

Es ist ein euphorisches Treffen - eine Freundin und Kollegin aus dem Ausland, die leibhaftig da ist, die wir nicht nur im Grenzbereich drücken dürfen.

Es dauert nicht lange, da wird sie auch schon als freiwillige Helferin eingesetzt: Es muss einiges sortiert werden, S. nimmt sie und noch eine weibliche Kollegin mit. Am Samstag wollen mein Kollege O. und ich uns mit B. auf einen Kaffee und einen kleinen Spaziergang treffen, das Vorhaben können aber leider wir nur teilweise umsetzen. Zum einen erhalten wir eine lange Medikamentenliste aus Tschernihiw und müssen in die Apotheke, danach zum Lager, dort noch für Mykolajiw Sachen zusammenpacken, es gibt ein Auto, das dahin fährt. So sind nun eben die gemeinsamen Aktivitäten, liebe B., scherzen wir. Sortieren und packen statt picknicken oder kegeln.

Wir sorgen für uns, damit wir für andere sorgen können

Dann aber setzen wir uns doch in unser kleines Literaturcafé an der Ecke, die DAAD-Lektorin schalten wir per Videochat zu. Und ja, wir können lachen, scherzen, nebenbei immer wieder Sachliches am Telefon erledigen. B. erzählt, wie es ihr erging. Es sind die gleichen Gefühle und Zustände, wie wir sie auch kennen: Ohnmacht, Schuldgefühle, Schlaflosigkeit, Verzweiflung.

Zum Glück machte sie eine ähnliche Entwicklung durch wie wir und ist zur selben Erkenntnis gelangt: Es ist normal, dass wir uns nicht mehr schuldig fühlen, weil wir an einem sicheren Ort sind. Es ist normal, dass wir versuchen, die Mahlzeiten einzuhalten, dass wir lachen und dass wir jetzt im Café sitzen. Wenn es im Land keinen Ort und keinen Platz mehr dafür gäbe, dann würde das wohl das Ende für uns alle bedeuten. Wenn wir, die wir in den relativ sicheren Orten sind, keine Kraft mehr haben oder uns der Verzweiflung hingeben sollten, wer macht dann das, was wir tun? Wir sorgen für uns, damit wir für andere sorgen können.

Das unbeschwerte Zusammensitzen hat bald ein Ende. Es muss noch einiges erledigt werden, außerdem habe ich drei Seminare auf das Wochenende verlegt. In der Stadt treffe ich einen ehemaligen Kollegen vom International Office: V. ist inzwischen bei der lokalen Verteidigung, dort werden Reservisten und Freiwillige trainiert. Er wirkte immer wie ein Sonnyboy, stets mit Lächeln, adrett gekleidet. Er lächelt auch jetzt, als er sagt, seine Truppe geht in wenigen Tagen an die Front, als Verstärkung. Wann, darf er nicht sagen. Inzwischen ist klar, dass die Russen bald erneut einen großen Angriff starten würden. Seid ihr gut ausgerüstet? Waffenmäßig ja.

Ich muss daran denken, dass V. einer ist, der es nicht machen müsste. Er könnte definitiv mit Geld nachhelfen, um ein einschlägiges ärztliches Attest zu bekommen. Viele tun das. Aber das sage ich natürlich nicht. Wir umarmen uns, pass auf dich auf.

B. brachte auch einige Packungen des Schilddrüsenhormons L-Thyroxin mit. Ich poste in einer Facebook-Gruppe, dass es dieses Mittel gibt. Es sind erwartungsgemäß mehr Anfragen als vorhandene Packungen. Eine junge Frau aus Charkiw fragt am Telefon, ob ihr Mann die Tabletten abholen könnte, sie selbst ist mit zwei kleinen Kindern zu Hause. Ich frage sie nach ihrer Situation, sie will offenbar auch erzählen.

Die Wohnung ist dreckig. Der Sohn habe geweint und weigerte sich reinzugehen

Der Mann hat nun einen Job als Taxifahrer, sie müssen die kleine Einzimmerwohnung, die sie zum Glück gefunden haben, bezahlen. Ob wir mit etwas helfen können - Lebensmittel, Hygieneartikel, Kinderkleidung? Nein, sie wollen keinem etwas wegnehmen, sie möchten keine staatliche Hilfe, sagt sie wörtlich. Am liebsten würde sie irgendetwas Sinnvolles tun. Ob wir freie Hände brauchen? Sobald die Kinder in den Kindergarten gehen, worauf sie hofft, stünde sie zur Verfügung. Und ihr Mann als Taxifahrer habe immer wieder freie Fahrten, wir sollen sagen, wenn wir seine Dienste brauchen. Ich schlage vor, dass wir in Kontakt bleiben. Eine halbe Stunde später übergebe ich das Medikament dem jungen Mann, für die Kleinen gibt es eine kleine Packung Schokoladeneier; gut, dass B. uns auch damit versorgt hat.

"Herzlich willkommen in Czernowitz, auch wenn der Anlass so traurig ist", sage ich.

Ein paar Stunden später lerne ich auf demselben virtuellen Wege eine Frau aus Wassyliwka im Gebiet Saporischschja kennen. Auch sie fragt nach dem Hormon, jedoch nicht für sich, sondern für die Menschen in ihrer Gemeinde, die jetzt wohl von Russen besetzt ist. Man könne die Medikamente in den nächstgelegenen Ort per Post schicken, sagt sie, und von dort werden sie durch freiwillige Helfer zugestellt. Das funktioniert noch. Sie habe das schon mehrfach gemacht. Wenigstens auf diese Weise kann ich etwas für meine Gemeinde aus der Ferne tun, sagt sie. Leider kann ich ihr nicht mehr helfen, ich verspreche aber, dass ich ihr Bescheid gebe, wenn wir wieder eine größere Lieferung haben.

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Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Die Frau ist mit ihrem zehnjährigen Sohn und ihrem Mann seit einem Monat in Czernowitz. Sie waren in einer Großunterkunft, nun wurde ihnen eine Wohnung vermittelt, am Sonntag können sie einziehen. Am Samstag ruft sie erneut an. Sie entschuldigt sich. Ob ich wisse, wo man etwas Geschirr und Besteck bekommen könnte? Sie konnten außer Unterlagen, ein paar Klamotten und einem Plüschtier nichts mitnehmen. Das Lego wird ganz besonders vermisst. In der Wohnung ist außer einem Bett und zwei Sesseln nicht viel, sie ist schrecklich, verdreckt und heruntergekommen. Es wohnen zwei Katzen drin, die kein Katzenklo haben. Der Sohn habe geweint und weigerte sich reinzugehen.

Sie schickt ein paar Fotos, ich kann es nachvollziehen, der Kleine tut mir ganz besonders leid. Von Geschirr und Besteck können meine Schwester und ich noch einiges abgeben, wir suchen ein paar Utensilien zusammen, ich nehme mir vor, zusätzlich ein paar Sachen zu kaufen - immerhin habe ich von Freundinnen und Freunden ein paar Spenden für solche Fälle bekommen. Montagnachmittag wollen wir uns in der Stadt treffen. Bis dahin will die Frau ein Katzenklo gekauft haben. Eine der Bedingungen der Wohnungseigentümerin ist, dass die Tiere drinbleiben.

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