Meine lieben Bekannten aus Wassyliwka entscheiden sich zurückzufahren. Zwar können sie nicht in ihren besetzten Heimatort, aber sie wollen nach Saporischschja, das Zentrum des administrativen Gebietes. O. sagt, sie hätten ein großes Heimweh, wollten näher bei ihrer Heimat sein, außerdem leidet sie stark an Katzenallergie. Ob sie das Geschirr, das sie von mir bekommen hat, behalten darf? Denn sie haben noch keine Ahnung, wo sie unterkommen, sie treten eine Reise ins Ungewisse an. Ich versichere ihr, dass ich mich freuen würde, wenn sie ein paar Utensilien mitnehmen und frage, ob sie sonst etwas brauchen würden. Bettwäsche wäre gut, sagt O., in der Wohnung bekamen sie welche nur geliehen. Also besorgen mein Kollege und ich in der Mittagspause zwei Garnituren. Außerdem packe ich eine kleine Medikamentenkiste zusammen, in Saporischschja kann O. diese gut verteilen, in der Stadt sind Hunderttausende Flüchtlinge aus dem Süden der Ukraine. Zu dritt kommen sie vorbei, um sich zu verabschieden, wir umarmen uns, machen Fotos draußen, für R. ist auch einiges in der großen Tüte drin - von mir, aber auch aus dem "Kinderpaket" der Spenderin L. B., die liebevoll viele nette Kleinigkeiten auf die Reise mit dem letzten Hilfstransport nach Tscherniwzi schickte. R. strahlt, ich als seine persönliche Fee bekomme auch ein Geschenk von ihm - einen Stoffigel, der mich an ihn erinnern soll. "Ich bin mir sicher, dass wir uns wiedersehen", sagt O., "ich lade Sie jetzt schon herzlich zu uns ein. Unser Haus wird eine Station sein, wenn Sie mal auf unsere Krim fahren." "Ich nehme Sie beim Wort, meine Liebe. Erwarten Sie mich, sobald Sie wieder zu Hause sind", erwidere ich. O. verspricht, sich von unterwegs zu melden, am Abend kommt tatsächlich eine Nachricht, sie übernachten in einem Kindergarten in Hajsyn, in der Region Winnyzja.
Sie sind längst nicht die Einzigen, die ihren provisorischen Aufenthaltsort Tscherniwzi verlassen; viele aus den Regionen Kiew und Tschernihiw gehen zurück. Das junge Paar, das bei meiner Schwester wohnte, ist inzwischen in seiner Wohnung in Kiew, ihr Kind ist auf der Welt - ein Junge, den sie Dmytro genannt haben. Auch die Familie aus Tschernihiw, die in der Wohnung meiner jüngeren Nichte lebte, ging zurück. Meine Nichte würde nun zwar am liebsten zurück in ihre Wohnung, doch sie hat sich entschieden, noch eine Weile im Haus der Eltern zu bleiben. Dafür zieht in ihre Wohnung jetzt eine Familie aus Charkiw ein.
Vermittelt wurde sie von meiner älteren Nichte, die in ihrem Bücherlager karrieremäßig inzwischen sogar ein wenig aufgestiegen ist und nun in der Buchhaltung arbeitet. Die meisten Mitarbeiter dort sind von auswärts, viele suchen die Möglichkeit einer Unterkunft, die sie nicht mit anderen teilen müssen. Eine vierköpfige Familie hat nur ein bisschen Glück. Mehrere Wochen lang wohnte sie in einem kleinen Haus im Dorf Ostryzja nahe Tscherniwzi mit fünf weiteren Personen zusammen, Männer schliefen auf dem Fußboden, der alte Durchlauferhitzer streikte oft. Nun können sie in einer kleinen Dreizimmerwohnung unter sich sein. Über die Miete war man sich sehr schnell einig, die Familie hat ein gesichertes Einkommen und war sogar bereit, mehr zu zahlen.
Die Gäste in unserer Haushälfte sind auch nicht mehr "vollzählig". R. aus Mariupol ging auf Empfehlung ihrer Organisation "Terre des hommes" erst einmal nach Budapest, dort hat sie einen Auftrag, über den sie aber nicht besonders glücklich zu sein scheint. Zumindest sagt das ihre Mutter, die nach wie vor bei uns ist. Die Mutter sucht zwar auch eine Wohnung, jedoch gestaltet sich die Suche erwartungsgemäß nicht einfach. Eine war unbezahlbar, eine andere wird nur "an Einheimische" vermietet. Diese Form der Diskriminierung ist nicht neu - bereits 2014 gab es Wohnungsanzeigen mit dem Vermerk "wird nicht an Personen aus den Gebieten Luhansk oder Donezk vermietet".
Zwar habe ich kein eigenes Zimmer mehr, aber damit lässt sich eine Zeit lang leben
Tscherniwzi betraf diese Diskriminierung damals wenig, weil die Flüchtlingsströme meistens in den großen Städten in der zentralen und südöstlichen Ukraine sowie in Lwiw blieben. Aber jetzt ist die Situation anders. Die Region zählt zu den sichersten schlechthin. Die Geschichten über die randalierenden, lauten, unordentlichen, sogar feindlich gegenüber der neuen Wahlheimat eingestellten Binnenflüchtlinge werden schon nicht unbegründet sein, nur: Bedeutet der Status "Einheimische" automatisch ein Qualitätssiegel?
Ich habe vermutlich gut zu reden. Sowohl I. als auch unser zweiter Gast M., der ebenfalls noch bei uns bleiben möchte, sind ausgesprochen liebe Gäste, die sich an der Haushaltsführung beteiligen und vieles machen, zu dem ich gar nicht mehr komme. Unsere Notgemeinschaft funktioniert wunderbar, zwar habe ich kein eigenes Zimmer mehr, aber damit lässt sich eine Zeit lang leben. Der Krieg reduziert sowieso viele eigene Bedürfnisse, habe ich das Gefühl.
Ich bin in der glücklichen Lage nicht nehmen zu müssen, sondern geben zu können. Wohl auch eine Form des Egoismus. Mit dieser Erkenntnis kann ich jedenfalls gut leben. Und morgen geht es mit den Kollegen wieder ins rumänische Vatra Dornei, wo uns ein nächster Hilfstransport aus München, vom Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) an der Ludwig-Maximilians-Universität, erwartet.
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