Am Dienstag, dem 3. Mai, brechen wir frühmorgens wieder nach Rumänien auf. Dorthin geht auch ein Bus mit Hilfsgütern und Sachspenden. Es sind jeweils zehn Stunden Fahrt mit dem Kleintransporter. Vor der Grenze wollen wir tanken, von drei Tankstellen haben zwei keinen Diesel. Der Treibstoff wird in der Ukraine schon längst limitiert verkauft, diesmal können wir nur zehn Liter einfüllen. Die Unterlagen, die bescheinigen, dass es sich um einen humanitären Transport handelt, helfen nicht weiter. Also müssen wir auf der rumänischen Seite volltanken. Gegen acht Uhr abends sind wir auf dem Parkplatz in Cluj-Napoca, laden um und fahren ins Universitätshotel.
Die Familie des Kollegen S. wohnt dort seit nun anderthalb Monaten, seine rumänischstämmige Frau unterrichtet Rumänisch für Flüchtlinge. Nach einem kurzen gemeinsamen Abendessen gehen alle ins Bett. Ich lese noch die letzten Nachrichten. Die Region Sakarpattja (Transkarpatien) wurde zum ersten Mal beschossen. Sie liegt im äußersten Westen des Landes und hat Grenzen mit vier Staaten - die Slowakei, Ungarn, Polen und Rumänien. Die Russen zielen auch dort aufs Schienennetz, um die Waffenlieferungen aus dem Westen zu verhindern. Unser Gebiet Tscherniwzi (Czernowitz) bleibt also das einzige, das bisher noch keine Raketen abbekommen hat. Vielleicht nur noch eine Frage der Zeit, immerhin naht der 9. Mai, der "Tag des Sieges", die Russen brauchen dringend einen neuen "Sieg". Die Parade soll in Mariupol stattfinden, der ominöse Kreml-Propagandist Wladimir Solowjow ist dort bereits am Werk, ein Foto von ihm und dem "Präsidenten der Donezker Volksrepublik", Denis Puschilin, wird im Telegram-Kanal gepostet.
Als Letztes lese ich einen Bericht über Menschen, die Gewaltopfer der russischen Soldaten in der Kiewer Region wurden. Die sadistische und fantasievolle Lust an der Gewalt, am Foltern der Zivilisten durch die russischen Soldaten erscheint für viele Menschen "im Westen" unfassbar. Doch in Wirklichkeit ist sie nicht neu, sondern steht in der Nachfolge der russländischen zaristischen und später sowjetischen "Tradition". Obwohl man an dieser Stelle relativieren muss: Eine ähnliche "Tradition" gab es überall in Europa, sonst hätten wir heute keine Museen für mittelalterliche Folter. Auch die Inquisition soll außerordentlich erfinderisch ihren realen oder vermeintlichen Gegnern die Grundlagen des wahren Glaubens "vermittelt" haben.
Unsere Lehrerin schlug die Mitschülerin mit dem Kopf auf den Tisch
Das humanistische und aufklärerische Gedankengut setzte sich im Abendland nach und nach durch, doch je weiter östlicher, desto weniger flächendeckend geschah das. Man soll sich keiner Illusion hingeben: Die humanistische Bildung war keine Grundlage des sowjetischen Bildungssystems. Eine Summe der Kenntnisse und Informationen, die ein Mensch imstande ist, sich anzueignen, sagt noch nichts über die von ihm verinnerlichten Werte aus.
Ich muss an eine Erfahrung aus der Grundschulzeit denken. In meiner Klasse lernte eine Zeit lang eine Schülerin, die aus einer sozial schwachen Familie stammte. Die Erziehungsmethoden unserer Lehrerin bestanden darin, dass sie die Schülerin anschrie oder mit dem Kopf gegen den Tisch schlug. Ich weiß nicht, wie es dabei den anderen erging; ich selbst fand diese Vorgehensweise damals ganz richtig, denn wie soll man anders mit ärmlichen, uneinsichtigen und dämlichen Schülerinnen umgehen?
Ich pauschalisiere ungern, doch es war bestimmt kein Einzelfall.
Die Gewalt gegen Schwache und Andersdenkende war und bleibt eine der wichtigsten Methoden aller despotischen Regime, mit der zu beginnen nie zu früh ist. Welche Früchte sie später trägt, hängt freilich von vielen anderen Faktoren ab. Ich persönlich erfuhr später Gott sei Dank andere Einflüsse, auch die des "verdorbenen und verfaulenden" Westens, die mich letztendlich viel stärker prägten. Ich frage mich aber, wie die Chancen vieler Kinder im heutigen Russland sind, die bereits im Kindergarten die vorgefertigten Antworten auf die Fragen ihrer Erzieherinnen üben: "Warum war es richtig, dass unser Präsident der Ukraine einen Krieg erklärte?" Ob sie es schaffen, sich von diesem Gedankengut zu befreien?
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