Ukrainisches Tagebuch:Wir träumen von einer intakten Welt

Ukrainisches Tagebuch: Oxana Matichyuk sieht man wohl nur auf diesem Bild allein. In Wirklichkeit lebt sie in einer galizisch-donbasser WG mit wechselnder Mitbewohnerzahl.

Oxana Matichyuk sieht man wohl nur auf diesem Bild allein. In Wirklichkeit lebt sie in einer galizisch-donbasser WG mit wechselnder Mitbewohnerzahl.

(Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Über das Glück, das Hundewelpen vermitteln können: Notizen aus dem Krieg.

Von Oxana Matiychuk

Während ich einen Journalisten von der Deutschen Welle nach Nowoselyzja begleite, lerne ich endlich A. persönlich kennen. Bisher kannten wir uns aus den Telefongesprächen und Nachrichten über Messenger, A. engagiert sich für Binnenflüchtlinge im Ort, in Nowoselyzja sind es zurzeit ca. 500. Im normalen Leben war sie Notarin, 25 Jahre Berufserfahrung, jetzt ist sie freiwillige Helferin und treibt Hilfsgüter auf, wo sie nur kann. Unter anderem arbeitet sie für die Hilfsorganisation Rokada. Ihr Mann ist Grenzpolizist und hat Arbeit an einem der Grenzübergänge der Region gefunden. Bisher holte er bei uns immer wieder Hilfsgüter ab, wenn er von der Schicht nach Hause fuhr. "Nach Hause" ist leicht hingeschrieben, aber in Wirklichkeit ist es kein richtiges Zuhause für die Familie, vermute ich, denn was ist schon ein Zuhause für Menschen, die in der Kriegssprache als "dwitschi VPO", "doppelt displaced persons" bezeichnet werden. VPO ist eine Abkürzung im Ukrainischen, die so viel bedeutet wie "innerhalb des Landes umgesiedelte Person".

2014 verließ A. mit der Familie ihre Heimatstadt Donezk, wo die "russische Welt" eingezogen ist, und ging nach Charkiw, im März 2022 musste sie erneut flüchten. Dass das kleine Nowoselyzja zum neuen Aufenthaltsort wurde, war ein purer Zufall, den sie ihrem Cockerspaniel zu verdanken haben. Kurz vor dem Silvester 2021 kauften sie einen niedlichen Welpen, der in Begleitung eines tierliebenden Fernfahrers den langen Weg von fast eintausend Kilometern aus der Region Czernowitz nach Charkiw machte und zum zweiten Liebling der Familie, die auch eine Katze besaß, wurde. A. schickt mir viele Bilder aufs Telefon, die die ganze Geschichte illustrieren. Fotos aus Charkiw, der fröhliche Bonja, mit dem vollständigen Namen Bonifatius, im Haus, im Schnee draußen, mit A.s Tochter. Die Fotos einer intakten Welt, in der es alles für ein glückliches Leben zu geben scheint. Bis die "Befreier" auf den Befehl der Kreml-Clique einen neuen Feldzug starten, um sie zu zerstören.

Drei Monate lang lebten sie in einem Haus - zwölf Menschen, vier Hunde und zwei Katzen

Gleich am 24.Februar, sagt A., riefen die früheren Besitzer des Hundes an und boten ihnen an zu kommen. Dabei sind sie einander früher nie begegnet. Nach dem anfänglichen Zögern entschied sich die Familie, Richtung Westen aufzubrechen. Drei Monate lang lebten sie gemeinsam in einem Haus - zwölf Menschen, vier Hunde und zwei Katzen. Wie eine Familie, sagt A., wir machten alles zusammen, sind beste Freunde geworden. Beim nächsten Wurf bekam die Hündin elf Welpen, A. schickt süße Fotos von den Kleinen in einem Welpenbett. Das Bett quillt buchstäblich über, das Bild ist entzückend. Wie wurden all die Hundebabys versorgt, frage ich. Wir waren doch viele Helferinnen und Helfer, lacht A., wir fütterten sie mit Babynahrung.

Nach drei Monaten des Zusammenlebens, als es klar wurde, dass die Rückkehr nach Charkiw noch nicht möglich ist, mieteten sie ein Haus für sich. Mit den Hundebesitzern bleiben sie beste Freunde, gemeinsam besuchten sie sogar ihre Verwandten in Italien, auch davon gibt es Fotos, die A. mir als Beweismaterial schickt. Wir leben wie eine Familie weiter, bloß in verschiedenen Häusern, sagt A., wir helfen uns gegenseitig und feiern zusammen. Eine glückliche Geschichte, die noch kein Ende hat.

Ich bewundere A.s Stärke, Engagement und ihre nüchterne Einschätzung der Lage. Sie kommuniziert mit der lokalen Verwaltung, führt Listen, erstellt Google-Foren, wenn es wieder Hilfsgüter zu verteilen gibt. Sie spricht von "ihren Menschen" und dass die meisten von ihnen in sehr einfachen Verhältnissen leben, längst nicht alle haben Glück und finanzielle Möglichkeit wie ihre Familie. A. macht auf mich den Eindruck, dass sie eine Stütze ist für viele, die eine solche innere Kraft nicht haben. In einem kleinen Ort, wo es nicht ausreichend Infrastruktur und keine ständigen Vertretungen der Hilfsorganisationen gibt, ist eine Person wie sie umso wichtiger. Wir haben auch schon ein nächstes konkretes Vorhaben: Eine Spende der Dr.-Gabriele-Lederle-Stiftung für Menschen mit Behinderung soll den bedürftigen Binnengeflüchteten in Nowoselyzja zugutekommen. Dabei wird A. meine Helferin und Vermittlerin im Ort sein.

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