Ukrainisches Tagebuch (LVII):Der Ersatzzug entfällt

Ukrainisches Tagebuch (LVII): Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität von Czernowitz im Westen der Ukraine.

Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität von Czernowitz im Westen der Ukraine.

(Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung: SZ)

Bahn, Internet, Kurierdienst: Bei uns in der Ukraine funktioniert einiges besser als in Deutschland. Selbst im Krieg.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Meine Rückreise aus Deutschland zurück in die Ukraine am Samstag beginnt mit einem lapidaren "Zug fällt aus" auf der elektronischen Anzeige. Ein vielversprechender Anfang um 17.15 Uhr in Bremen angesichts der Tatsache, dass mein Flieger am nächsten Tag von Memmingen um 10.05 Uhr geht. Nach zwanzig Minuten Wartezeit am Reisezentrum lautet die Auskunft, "Ja, Ihr ICE fällt leider aus. Es sollte einen Ersatzzug geben, aber er fällt auch aus."

Eine Szene, wie sie Eugène Ionesco oder Samuel Beckett sofort für ein absurdes Stück übernehmen könnten, denke ich, und entscheide mich für die einzige Alternative: Zwei Stunden später mit dem ICE 619, Ankunft in Ulm um 4.40 Uhr, genug Zeit, um von Ulm mit einem Taxi zum Flughafen zu kommen. Wenn sonst nichts schiefläuft. Die Hoffnung auf ein paar Stunden Erholung im Hotel in Ulm muss ich aufgeben. Ich gehe zurück in mein Hotel Intercity, zum Glück nur ein paar Meter vom Bahnhof entfernt. Die freundliche Rezeptionistin erlaubt mir, die Zeit in der Lobby zu überbrücken. Ich gönne mir Caipirinha und chatte mit Freunden in Deutschland, denen ich mein Abenteuer erzähle. "Oh Gott, wie wäre das erst, wenn der Krieg bei uns wäre", schreibt mein Bekannter aus Heilbronn. Ich muss lachen.

Man könnte es Fundraising nennen, aber ich bin nichts anderes als eine Bittstellerin

Obwohl in der Ukraine Krieg herrscht und sie auch davor schon als ein "Entwicklungsland" galt, funktionieren einige Dinge besser oder schneller. Das Internet zum Beispiel oder der Kurierdienst Nova poschta, der alles Mögliche - ob ein kleines Paket oder eine Palette voll Hilfsgüter - schnell und zuverlässig liefert, und das bis an die Frontlinie. Oder vielleicht gerade deswegen, weil Krieg ist. Vieles muss sehr schnell gemacht werden. Ich lasse die letzten Tage in Deutschland Revue passieren. Hamburg, Lübeck, Bremen, drei Hansestädte in fünf Tagen, überall war ich früher mehrfach, unter anderem für den Jugendaustausch. Viele schöne Stunden mit jungen Ukrainerinnen und Ukrainern und deutschen Kooperationspartnern habe ich dort verbracht, an alle Projekte knüpften sich Hoffnungen auf eine gute Zukunft.

In den letzten Jahren waren wir in der Kulturarbeit so weit, dass wir auch anspruchsvolle internationale Projekte konzipiert und koordiniert haben. Nun bin ich teils in der Funktion unterwegs, die ich nie wollte: Man könnte es Fundraising nennen, aber eigentlich bin ich nichts anderes als eine Bittstellerin. Ich spreche von den existenziellen Bedürfnissen und bin dankbar, wenn jemand bereit ist, zu unterstützen. Es geht nicht um Künstlerresidenzen oder hohe Literaturinhalte, es geht um Dinge, die Menschen zum Überleben brauchen.

Das ist bitter, weil wir alle hofften, dass die schlimmsten postsowjetischen Zeiten endlich überstanden waren. Nun ist unser Land um Jahrzehnte zurückgeworfen. Eine andere Art von Fundraising ist gefragt, aber diese Tätigkeit scheint mir der sinnvollste Beitrag in unserem Kampf gegen die sehr spezielle Ausprägung des - laut Papst - "russischen Humanismus" zu sein.

Die im Geiste dieses "Humanismus" erzogene russische "politische Elite", Offiziere und Soldaten, Beschäftigte im IT- und im Energiesektor sowie "einfache Bürgerinnen und Bürger, die nichts entscheiden und sich für die Politik nicht interessieren" versuchen mit allen Mitteln, das Nachbarland zu "bekehren". Meine Erinnerung an Beckett und Ionesco ist nicht zufällig, schon öfter musste ich daran denken, dass wir wieder in der Situation sind, wo die Sprachtauglichkeit einer Revision bedarf. Ihre Gültigkeit behält nur der Wortschatz des Konkreten und des Sachlichen. Ich bin allen sehr dankbar, die mir zuhören und Fragen stellen - in der Technischen Hochschule Lübeck, im Lions Club Hamburg Moorweide, an der Universität Oldenburg, auf dem Festival für grenzüberschreitende Literatur "globale°". Viele neue Bekanntschaften, viele spannende Dinge. Eine Sehnsucht nach der alten Normalität, die mich in der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen überkommt.

Parallel nehme ich wahr, was alles zu Hause zum Wochenbeginn ansteht: Am Montagmorgen müssen fünf Tonnen Hilfsgüter abgeladen werden, die am Freitag in Rumänien abgeholt wurden. Die männlichen Kollegen werden im Freiwilligenchat durch S. aufgefordert, sich zu melden, wer kommen kann. Die Firma Skeiron aus Lwiw beginnt mit der digitalen Erfassung des Gebäudeensembles der Universität, unseres Unesco-Kulturerbes. Auf drei Anfragen für die Hilfslieferungen in die Gemeinden muss ich reagieren, weil es primär meine Kontakte sind. Ein Fernglas für den Mann einer Kollegin wurde durch den Bekannten von S. beschafft. Die Familie aus Saporischschja erwartet mich zum Mittagessen. So sind sie jetzt, meine Tage im Krieg.

Als ich kurz nach 19 Uhr wieder in der Bahnhofshalle stehe, atme ich auf: Die Anzeige verspricht nur fünf Minuten Verspätung. Meine Rückreise ist gerettet, hoffe ich.

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