Ukrainisches Tagebuch (LVI):Der Strom wird knapp

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Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Zum ersten Mal schlagen nun auch in meiner Stadt Czernowitz Raketen ein. Und wir Ukrainer wenden Dinge an, die wir aus unserer Kindheit kennen.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Der Montagmorgen und der letzte Oktobertag beginnen für mich in Darmstadt, nach einer Veranstaltung im Atelierhaus Vahle, dem "Literaturtag Czernowitz". Es wäre so schön, wenn die Umstände anders wären. Die Zeit vor meiner Abreise in den Norden möchte ich für die Arbeit nutzen und klappe meinen Laptop um sechs Uhr deutscher Zeit auf. Zu Hause ist es sieben. Ich chatte mit S., dem Leiter des International Office, er kam am Vorabend von der Universität Timișoara zurück. Er hat einiges eingekauft, was unsere Kollegen an der Front brauchen. Auch Schuhe in Größe 45 für einen 15-jährigen Jungen aus Charkiw, der mit seiner Mutter in der Wohnung meiner jüngeren Nichte lebt. In dieser Größe konnten sie lange keine Winterschuhe finden. Nun bringt S. ein Paar mit, hoffentlich passen sie. Hier ist Luftalarm, schreibt er um 7.22 Uhr. Ich reagiere mit einem Satz, den meine Oma aus dem galizischen Dorf manchmal sagte, wenn eines ihrer zahlreichen Haustiere größeren Schaden anrichtete. Dann beantworte ich weiter meine Mails, die sich angestaut haben.

Kurz darauf ist der Kollege O. online, signalisiert mir das grüne Pünktchen im Chat. "Bin von dem Geheul des Luftalarms erwacht", schreibt er. "Mehrere Einschläge bereits, auch bei uns in der Region." Ich schalte wieder auf Nachrichten um. Die Aktion "Schafft Steinzeitzustände für die Ukrainer" ist wieder in vollem Gange: Heizkraft-, Wasserkraft- und Elektrizitätswerke sind Ziele des massiven Beschusses. Und tatsächlich meldet auch die Militärverwaltung Czernowitz einen Raketeneinschlag. "Ein Objekt kritischer Infrastruktur" heißt es in offiziellen Mitteilungen. Ich denke sofort an eines der größten "Objekte". Später bestätigt sich meine Vermutung. Zum ersten Mal wurde ein Ziel in unserer Region erreicht. Nicht besonders verwunderlich, war ja sowieso nur eine Frage der Zeit. Und vor Kurzem fand ausgerechnet Czernowitz eine Erwähnung im Kontext der sogenannten "schmutzigen Bombe": Der russische "Kriegsexperte" Alexander Artamonow teilte der Öffentlichkeit seine Erkenntnisse mit, laut denen "die Stoffe für die Bombe zunächst nach Czernowitz eingeführt wurden, mit der Bahn. Dort erhielt man die ersten Anweisungen, und es wurden die ersten Arbeiten mit dem Material gemacht" (zu lesen beispielsweise auf der Homepage von Argumenty i Fakty vom 23. Oktober 2022).

Wer weiß, wie viele Stunden wir in den Schlafsäcken verbringen müssen?

Da könnte man doch als Czernowitzer fast stolz sein, man fühlt sich gleich aufgewertet. Der lange in der Gegend kursierende Scherz, die Russen würden vor 1940 gedruckte Landkarten verwenden, auf denen unsere Region noch als ein rumänisches Hoheitsgebiet gekennzeichnet ist, daher flögen keine Raketen zu uns, hat nun definitiv keinen Bestand mehr. Laut der Militärverwaltung sind die Schäden "kritisch", aber Personen seien nicht zu Schaden gekommen. Man habe mit sofortigen und noch strengeren Stromrationierungen zu rechnen. In mehreren Städten ist der Strom komplett ausgefallen, darunter Kiew und Tscherkassy. Noch bevor ich meine Freundin M. in Tscherkassy frage, erreicht mich schon ihre Frage, wie es uns gehe. Ich schreibe zurück, dass ich nicht vor Ort bin. Und bei euch? Die ganze Stadt ohne Strom und Wasser, schreibt sie. Mobiles Netz funktioniert nicht, lediglich eine schwache Internetverbindung, sodass man schreiben kann. Sonst alles okay. Haltet durch, Slava Ukrajini!

Im Familienchat bringe ich abermals den Vorschlag, einen Stromgenerator zu kaufen. Wir sind im Haus, nicht in einer Stadtwohnung, es wäre durchaus möglich, ihn zu benutzen. Stromgeneratoren sind bereits Mangelware, die Preise dafür sind stark gestiegen, aber vielleicht ließe sich noch etwas finden. Wir einigen uns darauf, dass wir uns die Kosten teilen. Vor ein paar Wochen schätzte mein Schwager meine Sorgen noch als übertrieben ein, auch fanden meine lieben nächsten Verwandten und Nachbarn es eher lustig, dass meine Mitbewohnerin I. aus Mariupol und ich Wasserflaschen füllten und in den Keller schafften. Nun scheint diese Maßnahme nicht umsonst gewesen zu sein, wer weiß, wie viele Stunden wir in absehbarer Zukunft im Kerzenschein in den Schlafsäcken verbringen müssen. Gut, dass wir im Garten einen kleinen Ofen haben und unsere Kindheit auf dem Land verbrachten, als es dort noch keine Gasleitung gab und man mit Holz und Kohle heizte. Wie gut, dass man im galizischen Dorf von klein auf bei allen Arbeiten eingesetzt wurde und learning by doing ganz selbstverständlich war. Ein paar Überlebensstrategien nahmen wir in jedem Fall aus jener Zeit mit. Im akademischen Werdegang lernt man sie kaum.

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