Ukrainisches Tagebuch (XLIII):Ein Erste-Hilfe-Set und gute Wanderschuhe

Ukrainisches Tagebuch (XLIII): "Ich weiß, dass es keine Worte gibt, um O. zu trösten oder zu beruhigen." - Oxana Matiychuk.

"Ich weiß, dass es keine Worte gibt, um O. zu trösten oder zu beruhigen." - Oxana Matiychuk.

(Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung: SZ)

Ein Bekannter wird überraschend eingezogen, ohne jede militärische Erfahrung - wie kann man da helfen? Das ukrainische Tagebuch.

Montag, 13. Juni. Ich habe eine lange Prüfung, weshalb sich der Tag absolut unproduktiv anfühlt. Gegen Abend bedankt sich O. aus Mykolajiw. Das Paket mit der Tranexamsäure und anderen Sachen ist angekommen. Und: Ihr Mann M. wurde eingezogen. "Der Mobilmachungsbescheid wurde ihm völlig überraschend ausgehändigt, er hatte gerade mal drei Stunden Zeit, um sich fertig zu machen." - "Hat er Kampferfahrung, war er früher beim Militär?", frage ich. "Nein", schreibt O. zurück, "noch heute Morgen konnte ich nicht ahnen, dass ich ein paar Stunden später die Ausrüstung für meinen Mann suchen werde. Erst mal absolviert er ein zweiwöchiges Militärtraining, was danach kommt, wissen wir nicht."

Ich weiß, dass es keine Worte gibt, um O. zu trösten oder zu beruhigen. Was ich anbieten kann, ist ein Erste-Hilfe-Set und gute Wanderschuhe, wenn er zufällig die Größe hat, von der das letzte Paar im Büro von S. liegt. Es wurde heute zurückgegeben, weil es einem Kollegen doch nicht passte. Zufällig ist es tatsächlich die Größe von M. Ich schreibe S., das Paar sei reserviert, er soll es bitte keinem anderen versprechen. Morgen gehen die Sachen in die Post nach Mykolajiw.

Gedacht ist das Ferienlager in den bukowinischen Karpaten vor allem für Jugendliche aus geflüchteten Familien

Dienstag, 14. Juni. Die Nachricht des Tages ist die erwartete Absetzung des Leiters der regionalen Militärverwaltung, im Kabinett ist der Beschluss durch, der Präsident muss ihn noch unterschreiben. Oder auch nicht. Jenseits der ganzen Problematik hat die Situation auch für uns eine sehr konkrete Folge: Die stets einen Monat lang gültigen Ausreisegenehmigungen für Männer werden bis auf Weiteres nicht verlängert, die Gültigkeit der aktuellen wird ausgesetzt. Es läuft ein Ermittlungsverfahren. Die Kollegen S. und W. reichten gerade ihre Unterlagen für die Verlängerung ein. Nun müssen sie sich an die Militärverwaltungen anderer Regionen wenden oder warten. S. versucht es über seine akademischen Kontakte in Luzk und Chmelnyzkyj, ob es dort klappt und wie lange es dauert, kann niemand sagen.

Eine erfreulichere Sache an diesem Tag ist, dass wir den Antrag für ein kleines Sommercamp für Jugendliche abschicken. Eine Professorin der Universität Augsburg, die in Tscherniwzi geboren wurde und Mitbegründerin des Vereins Deutsch-Ukrainischer Dialog ist, will sich um Förderung bemühen. Das Konzept dafür entwickelte O. mit zwei befreundeten Künstlerinnen. Es heißt "Nostos", das ist das griechische Wort für Heimkehr. Gedacht ist das Ferienlager in den bukowinischen Karpaten vor allem für Jugendliche aus geflüchteten Familien, mit kunstpädagogischer Begleitung sollen sie sich mit dem Thema Heim(kehr) und Zuhause auseinandersetzen. Wir hoffen sehr, dass der Antrag bewilligt wird.

Mittwoch, 15. Juni. Bevor die nächste Prüfung losgeht, treffe ich A. aus Kramatorsk. Wir haben eine Übergabe vereinbart - ein paar Kinderklamotten aus dem Restbestand des früheren Ladens meiner Nichte und einige Kindersachen, sie hat zwei Söhne, die anderthalb und fünf Jahre alt sind. In zehn Minuten erzählt sie ihre Geschichte. Auch sie, eine russischsprachige Familie aus der Region Donezk, wurden Opfer der "Befreiung vor den Nazis in Kiew". Auf der Flucht vor der "russischen Welt" gingen sie ausgerechnet nach Westen, wo die Konzentration dieser "Nazis" deutlich größer ist, und wohnen seit dem 8. März in einem Dorf nahe Tscherniwzi.

Ihre größte Sorge ist im Moment die OP ihres Sohnes

Ihre größte Sorge ist im Moment die anstehende Nierenoperation des jüngeren Sohnes. Eigentlich hatten sie bereits einen Termin im April, die OP sollte in Cherson stattfinden, aber dann wurde die Stadt besetzt. Nun haben sie einen anderen Arzt in Schytomyr, der die Operation durchführen kann, hoffentlich schon im Juli. Es wird allerdings teuer werden, das Geld, das sie vom Staat bekommt, wird wahrscheinlich nicht ausreichen. "Wenn Sie die Kostenkalkulation haben, melden Sie sich doch, vielleicht können wir wenigstens einen Teil der Kosten aufbringen", sage ich spontan. So verbleiben wir. Am nächsten Morgen schickt A. eine zweiseitige Diagnose, als Beweis für das, was sie mir erzählt hat.

Donnerstag, 16. Juni. Bloomsday in Dublin und eine Prüfungsfrage dazu für meine Studenten. James Joyce und sein "Ulysses" gehören zu den Themen der heutigen Prüfung. Nach sechs Stunden bin ich fertig, in jeder Hinsicht. Aber Literarisches beschäftigt mich weiterhin: Ich bestelle bei einem Verlag aus Tscherniwzi 21 Kinderbücher, von einer größeren Spende der Organisation "Schüler Helfen Leben" ist noch ein wenig Geld übrig, und weil wir mehrere Anfragen nach Kinderliteratur hatten, beschließen wir, das Restgeld dafür auszugeben. Der Verlagsdirektor schickt mir eine Auswahl mit mehr als 40 Titeln. Einige empfiehlt er, andere suche ich selbst aus.

Freitag, 17. Juni. Die Bücher werden bereits am Vormittag geliefert. Ein Teil davon wird sogar nach Chișinău gehen, dort kümmert sich ein Bekannter von der Heinrich-Böll-Stiftung um geflüchtete Familien mit Kindern aus der Ukraine. Nun bleibt noch ein kleiner Betrag übrig, für den Bücher anderer Verlage gekauft werden sollen. Der größte Buchhandel Yakaboo hat seine Lager quasi vor der Stadt, also können wir kommende Woche vorbeikommen und die Bestellung abholen. Wahrscheinlich muss S. dafür mit seinem Auto fahren, aber das sage ich ihm erst am Montag.

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