Ukrainisches Tagebuch (XXXIX):Die fragile Schutzschicht der Selbstbeherrschung

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Oxana Matiychuk arbeitet an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Oxana Matiychuk kommt für eine Lesung ihres Tagebuchs nach Deutschland, aber die surrealen Eindrücke des Kriegs verfolgen sie.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Eine kaleidoskopische Woche, so würde ich meinen Aufenthalt in Deutschland bezeichnen - jeweils zwei Tage in Hamburg, Berlin, München und Augsburg.

Hamburg überrascht mich durch viele ukrainische Fahnen im Treppenviertel, wohin mich meine Freundin Renate Nimtz-Köster zu einem Spaziergang führt. Dank ihr kam der Kontakt zur Süddeutschen Zeitung zustande. Eine glückliche Fügung, wie auch unsere Bekanntschaft vor vielen Jahren auf einer Studienreise in Czernowitz. Ich lerne zwei ihrer Freundinnen kennen, die das "Ukrainische Tagebuch" lesen. Es folgen eine weitere spannende Bekanntschaft dank dem Tagebuch, mit der Kriminalrätin G.; ein Interview in der Walter-A.-Berendsohn-Forschungsstelle; und ein Tag in Berlin, an dem ich mit Freundinnen und Freunden den nächsten Hilfstransport für Czernowitz bespreche.

Am 29. Mai findet die Veranstaltung statt, für die ich eigentlich in Deutschland bin: die Lesung aus dem "Ukrainischen Tagebuch" durch Iris Berben am 29. Mai im Lustspielhaus München, organisiert von der Süddeutschen Zeitung. Ich fühle mich sehr gut aufgehoben, beinahe verwöhnt, und komme mir vor, als wäre ich zweigeteilt. Ein Teil von mir beteiligt sich an dem Geschehen, ein anderer beobachtet alles. Vor elf Jahren hat Iris Berben in Czernowitz gelesen - die Gedichte der im Arbeitslager in Transnistrien umgekommenen Czernowitzer Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger. Den Abend mit einer der prominentesten Kulturschaffenden aus Deutschland, die jemals in Czernowitz waren, hatte unser Kulturverein organisiert. Nun liest sie mein "Kriegstagebuch". Auch mit sehr viel Fantasie hätte ich mir 2011 so etwas nicht vorgestellt.

Iris Berben und das Ukrainische Tagebuch
:"Es ist, als würde ich träumen"

Sie habe keine richtigen Worte dafür, wie es ihr und dem Land rund drei Monate nach Beginn der Invasion gehe, sagt Oxana Matiychuk. Im Münchner Lustspielhaus liest Iris Berben aus dem "Ukrainischen Tagebuch" der SZ-Kolumnistin. Ein anrührender, bisweilen sogar heiterer Abend.

Von Laura Hertreiter und Cornelius Pollmer

Das Schönste an der Wiederbegegnung: Es stellt sich sofort ein Gefühl der Vertrautheit ein, ohne dass wir viel reden müssen. Auf der Bühne erlebe ich mit Verwunderung, wie sich meine Texte mir verfremden und zugleich der Schauspielerin zu eigen werden, ein einmaliges Erlebnis. Am Ende des Abends in "Schumann's Bar" sagt Iris Berben: "Man hätte so viel sagen können, aber dann würde man gleich heulen." Es ist genau das, was auch ich fühle: Jedes Wort könnte die fragile Schutzschicht der Selbstbeherrschung durchbrechen. Zum Abschied gibt es daher nur eine Umarmung und ein "Danke".

Modische französische Plastiksäcke für die Toten

Die letzten beiden Tage in Deutschland verbringe ich bei der Familie Alberth in Augsburg, es ist mein "Zuhause" in Bayern, auf das ich immer rechnen kann. Die Zeit geht größtenteils für die Fertigstellung des Vortrags auf, den ich am 1. Juni an der Universität Augsburg halten darf. Über unseren Freiwilligen-Chat bekomme ich mit, was zu Hause passiert, welche Hilfsgüter kommen und wohin sie gehen, Fotos werden gepostet, scherzhafte Auseinandersetzungen ausgetragen. So schön die Wirklichkeit um mich in Deutschland ist, fühle ich doch, dass ich zurückmuss. Ich komme mir untätig vor, mitunter wird das unerträglich.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich deswegen nicht genug Luft bekomme, aber das ist nur der Nebeneffekt der Maske, die ich in Deutschland viel öfter aufsetze als zu Hause. Der Mund-Nasen-Schutz ist in der Ukraine kein Thema mehr, jedenfalls nicht wegen Covid. Für andere Zwecke wird er aber vielerorts dringend benötigt.

Ich muss immer wieder an ein Interview in der Ukrajinska Prawda mit dem Künstler A. von Krolikowski Art denken, das ich auf der Fahrt von Berlin nach München las. Vor einigen Jahren war sein Künstlerduo in Czernowitz, unser Kulturverein förderte das Projekt Fakelogy mit, im Rahmen dessen auch Krolikowski Art auftraten. Die Künstler führten eine Performance auf, in der es um Czernowitz und Paul Celan ging. Mir blieb sie gut im Gedächtnis. Wer sich einmal mit Paul Celan beschäftigt hat, musste sich zwangsläufig mit dem Tod beschäftigen. Nun setzt sich der Künstler A. wieder mit dem Tod auseinander, diesmal allerdings in seiner sehr konkreten Form.

Seit der Befreiung der Region Kiew arbeitet er vor Ort in einem Leichenhaus. Dorthin werden die Körper der Menschen gebracht, die Opfer der "zweiten Armee der Welt" wurden. Im Leichenhaus werden sie durch Ärztinnen und Ärzte des französischen Instituts für kriminalistische Forschung der nationalen Gendarmerie (IRCGN) untersucht, A. ist freiwilliger Helfer. Außer ihm gibt es im Leichenhaus noch einen weiteren Künstler. Sie beide, sagt A., könnten dieses unfassbare Geschehen später wahrscheinlich besser verarbeiten, künstlerisch, ihre Psyche weiß um diese Option. Viele andere werden das nicht können.

A. erzählt im Interview vieles über seine Annäherung an den Tod, das ich hier nicht zitieren möchte. Ich muss beim Lesen an Gottfried Benns "Morgue und andere Gedichte" denken. Eine gewisse makabre Heiterkeit ist bei den Künstlern unüberhörbar. A. sagt beispielsweise, er spreche ab und an mit "seinen Toten", etwa so: "Meine Lieben, ich habe keine guten Nachrichten für euch. Eure Familienangehörigen waren nicht da, ihr wurdet nicht erkannt. Dafür gibt es neue französische Plastiksäcke! Modische weiße französische Plastiksäcke." Sogar Plastiksäcke für Tote sind bei den Franzosen chic, kein Wunder.

Was für einen "künstlerischen Bogen" diese Folge nimmt, denke ich. Ich bin wieder zurück im Land, in dem der Kriegstageszähler bereits über einer runden Zahl ist - dem 100. Tag.

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