Ukrainisches Tagebuch (XXXVIII):Der absolut sinnlose Krieg

Ukrainisches Tagebuch (XXXVIII): Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität Czernowitz im Westen der Ukraine.

Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität Czernowitz im Westen der Ukraine.

(Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Über Kinder, die der Krieg hoffentlich nicht traumatisiert, den Putin-Kritiker Alexej Nawalny und den Zynismus des Kreml.

Von Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

"Meine" T. aus Charkiw, die Mutter zweier Mädchen, fragt mich in Messenger, ob ich auf Arbeit bin und sie kurz vorbeikommen können. Ja, ab 13 Uhr nach dem Unterricht, schreibe ich zurück. Sie schreibt nicht, warum sie kommen wollen, ich frage nicht danach. Vielleicht möchten sie jetzt auch zurück nach Charkiw, mutmaße ich, und wollen sich verabschieden. Doch der Grund ist anders, obwohl meine Vermutung teils auch stimmt. T. und ihr Mann O. bringen Pfannkuchen und Marmelade. Die Pfannkuchen hat T. selbst gemacht. "Wir wollten uns irgendwie für Ihre Unterstützung bedanken", sagt T. "Wir haben einen Mixer von ihnen geschenkt bekommen, mit dem ich oft den Teig für Pfannkuchen mache. Wir alle essen sie sehr gern. Ich hoffe, Ihnen schmeckt es auch".

Ich bin sehr berührt. Die Pfannkuchen kommen zum richtigen Zeitpunkt, in der Mittagspause, ich kann aber nicht weg, weil ich gerade im "Stab des zivilen Schutzes" der Universität Dienst habe. Wo sind denn die beiden Mädchen, frage ich. Gehen jetzt beide in den Kindergarten, sagt T. Stimmt, sie teilte mir schon einmal mit, dass beide zweieinhalb- und fünfjährige Töchter in einen nahegelegenen Kindergarten aufgenommen wurden. Der Familienvater O. will demnächst aber tatsächlich zurück nach Charkiw. Dort hätte er eine bessere Arbeit, die er jetzt wieder aufnehmen könnte. Aber T.s Mutter, die bisher in Charkiw blieb, würde nach Tscherniwzi kommen. Bisher weigerte sie sich, aber es würde ihr guttun sich etwas zu erholen und keine Explosionen dauernd zu hören, obwohl sie eine, die sehr aktiv und tapfer ist, sagt T. Ihre Hilfe mit den Kindern wäre auch wichtig, wenn Papa nicht mehr bei ihnen ist. T. würde außerdem auch gern arbeiten, das wäre jetzt, wenn die Kleinen im Kindergarten sind, möglich.

Die Pfannkuchen teile ich mit zwei Kolleginnen. Sie schmecken wirklich ausgezeichnet. Die Kollegin S., die kurz zuvor eine wenig erfreuliche Unterredung mit einem Studenten hatte, sagt, sie hätten sogar einen therapeutischen Effekt. Das alles schreibe ich T. und bekomme mehrere Smilies zurück, sie freut sich. Ich freue mich meinerseits über die von ihr am Abend geschickten Fotos und ein kurzes Video. Die Mädchen packen die Tüte mit Kindersachen aus, ich habe für sie einiges aus der Kinderspende eingepackt. Auf dem Video ist zu sehen, wie sich die beiden Schwestern an die Tüte mit den "Hurra" und "Wow"-Rufen heranmachen. Sie ziehen alles aus und schreien dabei "Spasibo, Mama". Die Mama sagt, das sei ein Geschenk von Tante Oxana, sie sollen sich auch bei ihr bedanken. "Spasibo", ruft die Jüngere ohne in die Kamera zu schauen, ein "Danke" auf Russisch an eine abstrakte Tante Oxana.

Die Grenzen der russischsprachigen Welt sind längst nicht mehr mit den Grenzen der Machtansprüche des Kremls identisch

Dieses Video mit der unmittelbaren Freude zweier Kinder kann man sich ewig anschauen. Hoffentlich nehmen sie keine tiefen Traumata aus diesem Krieg mit. Sie wurden aus ihrer vertrauten Umgebung zwar herausgerissen, aber immerhin rechtzeitig in einen sicheren Ort gebracht. Das Absurdeste dabei ist, dass diese russischsprachigen Kinder, wie auch Tausende andere, vor dem größten "Beschützer" der russischsprachigen Bevölkerung weltweit fliehen mussten. Denn angeblich ist eines der "heiligsten" Ziele dieses Kriegs die Verteidigung der russischsprachigen Welt. Dass die Grenzen dieser Welt längst nicht mehr mit den Grenzen der Machtansprüche des Kremls identisch sind, will die russische Führung nicht begreifen.

Während ich mir das Video wiederholt anschaue, kommen mir plötzlich die Worte von Alexej Nawalny in den Sinn. Laut dem Nachrichtenportal meduza.io, sagte der zu neun Jahren Straflager verurteilte russische Oppositionspolitiker in seinem Schlusswort, nachdem das Moskauer Stadtgericht das Urteil am 24.Mai 2022 bestätigt hatte: "Niemand hat in den letzten Jahren mehr Russen umgebracht als Putin". Er meint das vor allem im Bezug auf die physische Vernichtung seiner Landsleute, der Nicht-Konformen, seien es Journalisten, Politiker oder Unternehmer. Angesichts des Krieges in der Ukraine gewinnt diese Äußerung noch eine weitere Dimension. Und ich meine damit nicht die getöteten russischsprachigen Bürgerinnen und Bürger der Ukraine, sondern die in dem absolut sinnlosen Krieg gefallenen russischen Militärangehörigen aller möglichen Ränge.

Selbst wenn Russland die Zahl der Getöteten streng geheim hält und möglicherweise sogar noch nicht überblickt, ist es inzwischen klar, dass der Blutzoll extrem hoch ist. Davon spricht in einem eindrücklichen Interview mit Meduza auch die Sekretärin der "Union der Komitees Russlands Soldatenmütter" Walentina Melnikowa: "Ein Ausmaß, dass wir so noch niemals gekannt haben". Ich möchte nicht zynisch sein, aber ich weiß die Antwort, die an dieser Stelle von den russischen Machthabern kommen würde; sie war und ist wohl auch jetzt die Reaktion auf die menschlichen Verluste in jedem Krieg, den Russland führte und führt, und wurde inzwischen zu geflügelten Worten: "Das macht nichts, die Weiber werden neue gebären".

Oxana Matiychuk kommt am 29. Mai ins Münchner Lustspielhaus - und Iris Berben liest aus dem "Ukrainischen Tagebuch". Alle Infos auf www.sz-erleben.sueddeutsche.de

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