Ukrainisches Tagebuch (XXIV):Der 50. Tag

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Viele Apotheken in der Ukraine sind zerstört, wie diese hier in Mariupol. Freiwillige wie unsere Autorin organisieren im Westen des Landes Hilfslieferungen. (Foto: IMAGO/Sergey Averin/IMAGO/SNA)

Ein Kind vermisst seine Lego-Steine, Studierende stellen einewichtige Frage, und auf Facebook kursiert ein "Moskau"-Witz.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Am Donnerstag, dem 14. April, zeigt der Kriegstagezähler den 50. Tag an. Eine runde Zahl, denke ich, was sagt sie aus? Im Fortgang der Geschichte ein Augenblick, gerade mal ein Wimpernzucken. Aber im Leben meines Heimatlandes, im Leben von Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern? Wie viele Existenzen kann man in 50 Tagen auslöschen, wie viele Häuser zerstören, wie viele Tiere und Pflanzen vernichten? Und wie lange wird dieser verdammte Kriegstagezähler noch ticken, bevor er endlich zum Stehen kommt?

Ich habe viele Unterrichtsstunden an diesem Tag und bin froh, dass mir keine Zeit für längere Reflexionen bleibt. Ein Seminar wird im Einvernehmen mit Studierenden auf den Abend verlegt. Nach der Lehre kann ich mich ab 13 Uhr endlich anderen Dingen widmen. Ich muss ins Lager, ein Lastwagen holt endlich die für Kiew, Tschernihiw und Bila Zerkwa bestimmten Paletten Babynahrung, Hygieneartikel und Medikamente ab. Auch mehrere Kanonenöfen wurden in den Lagerhof gebracht, die nun nach Osten gehen. Die Koordinatorin aus Kiew, O., kenne ich nur von Telefongesprächen; in dieser Zeit wird es vielen so gehen - man lernt eine Menge Menschen überall im Land kennen, die man nur von ihrer Stimme her kennt und deren Nummern in Smartphones unter Namen wie "Halyna Sandsäcke", "Tetyana Charkiw" oder "Wolodymyr Insulin" gespeichert werden.

Im Park vor der Universität warten meine neuen Bekannten aus Charkiw, den Familienvater konnte ich bereits kurz kennenlernen, nun sind sie zu viert da - beide Eltern, Mutter und zwei kleine Töchter. Ich habe einen Mixer aus Spenden für sie gekauft, T. kommt mit ins Büro, um ihn abzuholen. Eine sehr sympathische junge Frau, ich finde, dass ihr Name total gut zu ihr passt; sie gibt sich sichtlich Mühe, Ukrainisch zu sprechen, und sagt, es liege ihr daran, die Sprache jetzt zu verbessern, sie würde es online lernen. Beim Abschied fragt T., ob sie mich umarmen darf, sie sei zweimal geimpft. Ich muss lachen - Covid hat uns tatsächlich einige selbstverständliche Gesten abgewöhnt. Ich bin auch geimpft und sogar genesen, sage ich, wir umarmen uns.

A. ist zurück aus Deutschland und scherzt: Ihr Vater wollte, dass sie dort Geld verschwende

In unserer "Dienststelle des Zivilschutzes" an der Universität sind wir zu viert - zwei Personen, die eigentlich "Dienst" haben, zwei andere Kolleginnen sitzen da, weil sie die Gesellschaft gut finden. Außer mir drei junge Leute, alle unter 30, alle scharfsinnig, gebildet, vielseitig, es ist ein Vergnügen, ihnen zuzuhören oder sich mit ihnen auszutauschen. A. ist nach einem Monat mit ihrer minderjährigen Schwester in Dortmund wieder zurückgekehrt. Was brachte ihnen dieser Aufenthalt, will ich wissen. Weder sie noch ihre Schwester wollten weg, nur weil ihre Eltern darauf bestanden, gingen sie zu den Freunden nach Deutschland. A. antwortet in ihrer üblichen ironischen Weise, weil ihr Vater es unbedingt wollte, haben sie einiges von seinem Geld verschwendet und eine Abwechslung gehabt. Sie wären gern früher zurückgekommen, bloß gab es keine Flugtickets nach Suceava in Rumänien.

Die restliche Dienstzeit verbringe ich damit, mit meinem Kollegen die Datei der Anthologie durchzugehen, hoffentlich sind das die allerletzten Korrekturen und das Buch zu Ehren von Paul Celan kann dann in den Druck. Auch eine Überweisung klappt nach dem zweiten Anlauf - zwei deutsche Filmemacher wollten einen ukrainischen Protagonisten in der Region Charkiw finanziell unterstützen und nutzten mich als Zwischenstelle.

Nach dem Feierabend kaufen O. aus Wassyliwka und ich wie vereinbart Medikamente für O.s Gemeinde ein. Mir wird erst allmählich klar, dass es alles Medikamente für Kinder sind, die sie in ihrer Funktion als Sozialarbeiterin im "Zentrum für Inklusion und Ressourcen" betreute. Das sind staatliche Einrichtungen für Kinder mit physischen und geistigen Behinderungen. Ich freue mich still über meine Erfahrung aus der Kooperation mit der Katholischen Hochschule Freiburg. Im Rahmen der Seminare waren wir mehrfach in solchen Einrichtungen, Begriffe wie Trisomie 21, Autismus, zerebrale Kinderlähmung sind mit vertraut. O. ist stets in Kontakt mit Familien, die im besetzten Heimatort blieben. Allmählich werden Nahrungsmittel, Hygieneartikel, Medikamente knapp. Geld sowieso, verkauft wird nur noch gegen Bargeld. Hoffentlich ist die Zustellung durch die freiwilligen Helferinnen und Helfer noch möglich.

Oxana Matiychuk arbeitet an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Während die Apothekerin die Mittel zusammenpackt, redet O. von ihren Zöglingen. Ein 16-jähriges Mädchen mit schwerem Autismus, ihr Zustand habe sich sehr verschlechtert, seitdem es regelmäßig Beschuss gibt, aber die Eltern wollen oder können nicht weg; eine gehörlose 6-Jährige, deren Mutter auch noch ihre alte 90-jährige Oma versorgt; ein Teenager mit Down-Syndrom, sprachbehindert, er klatscht in die Hände, wenn er sich freut, ein ganz Lieber, der seinen Eltern im Garten hilft.

Die von der Apothekerin geholte Kartonkiste ist definitiv zu klein, sie besorgt eine größere. O. sagt, die kleinere soll sie bitte in die große reintun, sie würde gern beide mitnehmen. Auf meinen verwunderten Blick erklärt sie, die kleine Kiste sei ein gutes Bastelmaterial für ihren Sohn, seine Lego-Bausteine sind zu Hause geblieben, er spielt und bastelt aus dem, was ihm in die Hände kommt. O. klingt weder traurig noch klagend, eher fröhlich, weil ihr Sohn so kreativ und erfinderisch ist. Ich dagegen bin froh, dass ich eine Maske trage, weil mir Tränen in die Augen schießen. Der Kleine frage, ob er sein Lego wiederfindet, wenn sie nach Hause kommen. O. versichere ihm, dass sein Spielzeug auf ihn wartet. In Wirklichkeit habe sie keine Ahnung, was sie bei ihrer Rückkehr in ihrer Wohnung vorfinden würden. Die Nachbarin, die ihren Ersatzschlüssel hat, berichtet von russischen Soldaten, die sich in verlassenen Wohnungen einquartieren.

Das Seminar am Abend dauert viel länger als geplant. Wir lesen die "Nashörner" von Ionesco

Das Seminar am Abend dauert statt für den Online-Unterricht empfohlene 50 ganze 140 Minuten. Es ist eine Gruppe, die ich aus ihrem ersten Semester kenne, nun sind sie im sechsten, in der Ukraine haben akademische Gruppen an der Universität eine feste Zusammensetzung. Etwa ein Drittel ist stets präsent und gut vorbereitet, es ist eine Freude, mit ihnen zu arbeiten. Wir sprechen über "Die Nashörner" von Eugène Ionesco, es wird eine Menge Bezüge und Assoziationen in der Vergangenheit und in der Gegenwart genannt: Nordkorea, die UdSSR, Social Media mit ihren gefährlichen Spielen für Teenagern, Schönheitswahn und natürlich unser Nachbarland.

Die Diskussion will nicht enden, ich möchte sie trotz der fortgeschrittenen Abendstunde nicht abbrechen, obwohl ich noch einiges vorhabe. Zu Schluss kommt die Frage von J.: "Besteht nicht die Gefahr, dass wir auch zu Nashörnern werden, wenn wir ultimativ darauf pochen, dass jetzt nur noch Ukrainisch gesprochen wird?" Ich freue mich über diese Frage und über die Antworten, die kommen. Wenigstens droht dieser kleinen Gruppe junger Leute keine Vernashornung.

Es ist nach Mitternacht, als ich ein letztes Mal auf mein Smartphone schaue. Ein neuer Witz kursiert auf Facebook: Moskau ist gesunken. Es ist nicht DAS Moskau, nur das russische Flaggschiff - das Weltall hat zwar gut für uns gearbeitet, aber formuliert eure Wünsche fortan präziser, liebe Ukrainerinnen und Ukrainer! Kein schlechter Abschluss des 50. Kriegstages, denke ich.

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