Ukrainisches Tagebuch (XI):Sie würden alle in Flammen aufgehen

Ukrainisches Tagebuch (XI): Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität Czernowitz im Westen der Ukraine.

Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität Czernowitz im Westen der Ukraine.

(Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Toll, wer im Westen plötzlich alles Russland erklären kann. Und unser Land gleich mit. Das Tagebuch aus der Ukraine.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Im deutschsprachigen Raum gibt es viele Russland-Experten. Einige von ihnen meinen nicht selten, auch die Ukraine erklären zu können, meistens wird dabei eine Russland-Brille aufgesetzt. Weil die Ukraine es nicht geschafft hat, sich auch nur annähernd so laut zu erklären oder erklären zu lassen wie das Öl-und-Gas-Reich, mussten und müssen wir viel von dem hinnehmen. Mich beschäftigt jetzt nicht mehr so sehr das Problem der unzulänglichen Eigenerklärung, sondern die Frage, warum so viele Signale, die Russland mehr als deutlich an seine westlichen Nachbarn in den letzten Jahren sendete, nicht als ernst wahrgenommen oder einfach nur unter den Tisch gekehrt wurden.

Damit meine ich nicht "Dialoge" auf der höchsten politischen Ebene, sondern Äußerungen, die ihre Wirkungskraft in anderen gesellschaftlichen Bereichen entfalteten und bejubelt wurden. Während Europa beispielsweise am 8. Mai seit vielen Jahrzehnten unisono "nie wieder / never again" wiederholt, werden in Russland vermehrt "historische Rekonstruktionen" des Reichstagssturms veranstaltet und die Parole lautet "wir können wiederholen!". Dabei wird natürlich nicht vom Zweiten Weltkrieg, sondern von dem "Großen Vaterländischen Krieg" gesprochen. Wer nach Polen am 1. September 1939 aus der östlichen Richtung einmarschiert ist, wird ausgeblendet. Und wenn doch nicht, dann kommen die großen Worte über die "historische Mission der Befreiung des unterjochten ukrainischen Brudervolkes in Ostgalizien". Kommt Ihnen das vielleicht irgendwie bekannt vor?

Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, wenn ich mir kurz das Video mit einem der eifrigsten Propagandisten, Wladimir Solowjow, in seiner Fernsehsendung "Ein Abend mit Wladimir Solowjow" anschaue. Indem er von den in Deutschland aufmarschierenden "ukrainischen Neonazis" berichtet - damit werden die ukrainischen Flüchtlinge in deutschen Städten gemeint - wird er regelrecht hysterisch: "Wenn ihr glaubt, dass wir an der Ukraine halt machen - so denkt 300 Male darüber nach. Ich erinnere euch daran, dass die Ukraine nur eine Zwischenetappe für die Garantie der strategischen Sicherheit der Russischen Föderation ist." Ist die Botschaft klar genug formuliert? Es gibt hunderte ähnliche in den russischen Medien.

Staaten kann man nicht in geschlossene Psychiatrien einweisen

Viele Stimmen im Westen beteuerten immer wieder, Putin und Russland fühlen sich bedroht und daraus speist sich zum großen Teil ihre Ukraine-Politik, das müsse man verstehen. Bedroht von allen Seiten, durch Georgien, Moldawien und die Ukraine ganz besonders, daher galt es, dort Enklaven zu bilden, die anscheinend für mehr Sicherheit des Landes, das sich der "zweitstärksten Armee" in der Welt rühmt, sorgen. Ich muss daran denken, dass es bei Menschen manchmal auch so etwas wie Verfolgungswahn, paranoide Störungen gibt, auf Grund derer man sich (höchst) aggressiv gegenüber anderen verhält. Nur lässt sich dieses Problem damit lösen, dass Menschen in geschlossene Psychiatrien eingewiesen werden. Unter Staaten der Welt ist das nicht so einfach. Deswegen verliert die Ukraine jetzt Tausende Menschenleben und ganze Städte. Denn der Krieg der "zweitstärksten Armee der Welt" wird zumeist aus dem Luftraum geführt. Von dort, wo die Ukraine dem Aggressor nicht viel entgegensetzen kann. Unser Gast, der Prorektor einer technischen Universität in Charkiw, der jetzt in Czernowitz Zuflucht gefunden hat, sagt: "Sie können Charkiw auf dem Boden nicht einnehmen, sie würden alle in Flammen aufgehen, seien sie allesamt verdammt. Aber vor den Angriffen aus dem Himmel ist die Stadt schutzlos."

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