Ukrainisches Tagebuch (IX):Schau zu, Welt

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Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Bevor die Nachricht mit der bombardierten Geburtsklinik tonnenschwer auf unsere Herzen und Gedanken fällt, habe ich einen kleinen Grund zur Freude: Das Tagebuch aus der Ukraine.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Die "Entnazifizierung" der Ukraine durch die Armee der Russischen Föderation schreitet voran. Wenn Schulen, Kinderkrankenhäuser und sogar eine Geburtsklinik, wie am 9. März in Mariupol, zerbombt werden, so richten sich diese Maßnahmen gegen Kinder, auch Ungeborene, die jüngste Generation der Ukrainerinnen und Ukrainer, damit diese "Neonazis und Drogensüchtige" erst gar nicht werden können. Präventiver Schlag, sozusagen. So viel zur modernen Strategie der Kriegsführung des Oberbefehlshabers Wladimir Putin. Schau zu, Welt. Was gibt es da noch zu sagen?

Außenminister Lawrow bestätigt, dass das Gebäude ihr Ziel war, denn nach ihrer Information war das Gebäude durch "Radikale" besetzt. In Russland heiligt das Ziel die Mittel. Dass Russlands Informanten und "Ukraine-Experten" grundsätzlich viele Schwächen in ihrem umfassenden "Wissen" über das Land zeigen, ist erstaunlich, diese Tatsache wird inzwischen jedoch selbst von den Top-Propagandisten Rossija-1 anerkannt: "Wir sehen nicht, dass sie [Ukrainer] sich massenhaft ergeben ... wir sehen keine übermäßige Freundlichkeit gegenüber unseren Soldaten ... ja, diese Realität können wir nicht wirklich verweigern." Wer die russische Propagandasprache zu deuten vermag, der weiß, was es im Klartext bedeutet: die Erkenntnis, dass man sich komplett getäuscht hat. Bloß ist jetzt die Frage, wie gibt man so etwas zu?

Bevor die Nachricht mit der Geburtsklinik und dem Krankenhaus tonnenschwer auf unsere Herzen und Gedanken fällt, habe ich einen kleinen Grund zur Freude, genauer gesagt, zum Aufatmen, erst einmal. Um 13.08 erscheint auf meinem Smartphone tatsächlich eine Antwort von R. aus Mariupol, die ich am 3. und dann am 6.März versucht habe zu erreichen. "Ich bin gesund und wohlauf, aber die Lage in Mariupol ist sehr schlecht. Seit einer Woche sind wir ohne Wasser, Strom, Heizung und Internet, seit drei Tagen gibt es kein Gas. Wir machen Lagerfeuer. Essen und Wasser sind noch da. Heute ist der dritte Evakuierungsversuch gescheitert, aber wir hatten wenigstens kurz Empfang. Wir hören uns die Nachrichten im Radio an und sparen Batterien. Wir müssen hier raus."

Ob es Sinn habe, wenn ich ihr Geld überweise, frage ich. R. meint, das würde gar nichts bringen, Geld habe sie genug, aber Supermärkte und Läden sind leer, ausgeraubt. R. ist keine, die sich unterkriegen lässt, das weiß ich, hoffentlich schafft sie das, hoffentlich kann sie dort raus, hoffentlich.

Es fehlen Hygieneartikel, Kochmöglichkeiten sind begrenzt, Duschen gibt es viel zu wenig

Eine für die Studentenwohnheime zuständige Kollegin ruft an. Sie brauchen Decken, Bettwäsche und Handtücher, am besten mehrere Hundert, die sechs Wohnheime haben 3000 Plätze und sind teils schon überfüllt, der Vorrat an Textilien ist aufgebraucht. Viele, die in den letzten Tagen in Sicherheit gebracht wurden, konnten gar nichts mitnehmen, im besten Fall ihre Unterlagen. Eine kleine Textilfirma in der Stadt hat einiges auf Lager, ansonsten sind sie bereit, so schnell wie möglich zu produzieren. Wir haben zwar viel Geld aus Spenden, die auf das Konto unserer Partner, des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingegangen sind, jedoch bräuchten wir hier das Geld bar, um schnell bezahlen zu können.

Tausend Euro können wir vorstrecken, das ginge. Zwei Stunden später ist die Bestellung auch schon ins Wohnheim geliefert: 70 Decken und 50 Bettwäsche-Sets, längst nicht ausreichend, aber immerhin. Die Zustände in den Wohnheimen sind ziemlich chaotisch, hören wir weiter. Es fehlen Hygieneartikel, Kochmöglichkeiten sind begrenzt, Duschen gibt es viel zu wenig. Zudem sind in einem Wohnheim Menschen untergebracht, die ihre Haustiere dabeihaben. Ich nehme alles zur Kenntnis, ohne mich in die Probleme zu vertiefen. Wir tun, was wir können, auch wenn das ein Tropfen auf dem heißen Pflaster ist. Morgen soll die nächste Hilfslieferung kommen und auch ein wenig Bargeld. Herzlichen Dank an alle Leserinnen und Leser, Freundinnen und Freunde, Bekannte und Unbekannte, die uns finanziell unterstützen! Ohne eure Hilfe gäbe es nicht einmal diese Tropfen. Für die kommenden Tage sind wieder Evakuierungszüge nach Czernowitz angesagt.

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