Fast alle meine Mails beginne ich jetzt mit dem Satz "Ich kann Ihnen / Dir nur kurz schreiben, weil der Strom jederzeit abgeschaltet werden kann". Seit dem letzten Raketenangriff am 23. November können keine planmäßigen Stromabschaltungen mehr vorgenommen werden. Landesweit sind es Notabschaltungen. Der Strom geht immer wieder aus, meistens für mehrere Stunden. In unseren Universitätsgebäuden und auch bei mir zu Hause schaltet sich dann sofort auch die Heizung ab. Doch welche Freude, wenn wieder das Licht angeht. Sie ist nicht etwa mit der zu vergleichen, die man empfindet, wenn man bunt beleuchtete Läden oder Weihnachtsmärkte beispielsweise in Deutschland sieht. Ästhetik durch Verschwendung, das können wir uns gerade nicht leisten. Für intellektuelle Schreibübungen bleibt keine Zeit, man muss das Nötigste erledigen, wenn man ein paar Stunden Strom hat. Meine vier Tage in Deutschland in der vergangenen Woche waren deswegen stark durch sinnliche Empfindungen geprägt - Wärme und Licht.
Der Montag der darauffolgenden Arbeitswoche ist dagegen durch eine akustische Wahrnehmung gekennzeichnet: die der laufenden Generatoren. Dieses Rattern ist das Erste, was ich höre, wenn ich am frühen Morgen in den Hof gehe, um die Tiere zu versorgen. Einige Nachbarn lassen die Stromaggregate laufen. Wir haben inzwischen auch einen, doch bisher haben wir ihn nicht aktiviert. Nachts gab es Strom, die Fußbodenheizung im Erdgeschoß hält länger, sonst lässt sich alles beim Taschenlampenlicht erledigen, Gas wird mit Streichhölzern angezündet. Als wertvolle Geschenke habe ich zwei Campinglampen und mehrere Packungen Streichhölzer aus Deutschland mitgebracht. "Europa-Streichhölzer", die sind gut, man kann ein angebranntes und schnell ausgelöschtes ein anderes Mal wiederverwenden, um zum Beispiel von einer brennenden Flamme eine zweite anzuzünden. Ein Lifehack.
Denn in vielen Läden gibt es keine Streichhölzer mehr. Für die wiederverwendbaren steht ein kleines Tellerchen am Gasherd. Wasser wird bei uns ebenfalls mit Strom betrieben, aber wir sind jetzt schlau genug, um möglichst viele Behälter damit zu befüllen, wenn es mal wieder läuft. Außerdem konnte ich etwas Schneewasser einfangen, als der Schnee intensiv schmilzt. Eine Hochleistung des praktischen Denkens.
Im Büro scheint alles zunächst viel lichter zu sein. Doch nicht für lange - punkt um die Mittagszeit verabschiedet sich der Strom von uns für die nächsten vier Stunden. Ich gehe zu meiner Kleinfamilie aus der Region Saporischschja, die in der Wohnung der DAAD-Kollegin wohnt und mich montags stets zum Mittagessen erwartet. Mit O. haben wir sowieso einiges zu besprechen. Die energische Mittvierzigerin hatte die Aufgabe, eine Bestellung von der Kinderkleidung zu machen, damit wir eine weitere größere Spende von der Organisation "Schüler Helfen Leben" bis zum Jahresende ausgegeben haben. O. ist eine großartige Helferin, es geht ihr ähnlich wie mir: Nur durch aktives Handeln kann sie gegen die depressive Stimmung ankämpfen.
Exklusiv Jürgen Habermas zur Ukraine - 22 aus 22:Krieg und Empörung
Schriller Ton, moralische Erpressung: Zum Meinungskampf zwischen ehemaligen Pazifisten, einer schockierten Öffentlichkeit und einem abwägenden Bundeskanzler nach dem Überfall auf die Ukraine.
Wobei sie viel mehr Gründe hat, depressiv zu sein, als ich: Der Heimatort der Kleinfamilie Wassyliwka ist nach wie vor besetzt. O. hat eine Textilfirma in Winnyzja herausgefunden, die unter anderem Kinderkleidung herstellt, mit ihr alles abgesprochen und eine Anzahlung überwiesen. Nun macht sie eine Art Berichterstattung an mich. Für uns beide ist es gut: O. ist beschäftigt, ich bin entlastet, und der Prozess läuft. Nach dem Mittagessen holt mich unser Universitätsfahrer W. ab, wir fahren, um eine Generatorenlieferung abzuholen, sie wurde auf meinen Namen zugestellt. Es sind vier Inverter-Generatoren von unserem Partner, der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.
Wir kochen eine Suppe, viel Licht braucht man dafür ja nicht
Im Hof unseres Lagers probiert W. einen aus und ist begeistert. Weil immer noch kein Strom ist, gehe ich in die Stadt, um ein paar Sachen einzukaufen. Im Stadtzentrum begleitet mich das gleiche Geräusch: Viele Läden haben Generatoren angeworfen, um die stromlose Zeit zu überbrücken. Im Supermarkt ist es halb dunkel, Kartenzahlung ist nur an zwei Kassen möglich, aber die Welt geht dadurch nicht unter. Man arrangiert sich auch damit. Um 16 Uhr komme ich wieder an der Universität an - gleichzeitig werden die Fenster hell. Ich arbeite noch zwei Stunden und fahre dann nach Hause. Ganze Straßenzeilen unterwegs sind dunkel, nur einzelne Häuser beleuchtet - eben die, wo die Geräte rattern. Doch bei mir oben, oh Wunder, ist es hell. So kann ich sogar bei Licht essen und duschen, was für ein Luxus. Nicht allzu lange: Kurz nach sieben ist es mit dem Luxus vorbei.
Meine Mitbewohnerin I. aus Mariupol und ich kochen eine Suppe für morgen, viel Licht braucht man dafür ja wahrhaft nicht. Tiere füttern, Pflege machen - die Routine läuft auch ohne diese Erfindung der Zivilisation. Das Letzte, was ich am Abend dieses Tages draußen höre, wenn ich noch kurz aus dem Haus gehe, ist dieses Geräusch der Winterzeit 2022/23: der laufende Generator im Hof nebenan. Der Nachbar hat zwei Kinder im Grundschulalter, man kommt mit Kerzen und Taschenlampen wohl doch nicht so einfach aus. Diesen Text kann ich erst nach dem dritten Anlauf fertig schreiben. All diejenigen, die auf meine Rückmeldung per E-Mail immer noch warten, bitte ich um Entschuldigung und Verständnis.
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