Süddeutsche Zeitung

Ukrainisches Tagebuch (XXXIII):Mann mit Hund

Eine kleine Geschichte geht unserer Autorin zu Herzen. Dabei liest und hört sie täglich weitaus Schlimmeres.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Mein Morgen am Mittwoch, den 11.Mai, beginnt früh, um halb acht wollen wir wieder von Tscherniwzi aus nach Rumänien starten. Als ich in die Küche komme, ist meine Mitbewohnerin I. aus Mariupol schon da, sie muss noch früher los, kurz vor sieben geht sie werktags aus dem Haus. Während wir unseren Morgentee trinken, unterhalten wir uns kurz. Weil unser Hund Bars, der seit dem Kriegsbeginn in Bayraktar (wie die türkische Kampfdrohne) umbenannt wurde, draußen bellt, kommen wir auf das Hundethema zu sprechen. I. sagt, eine Kollegin von ihr habe gestern einen Hundewelpen geschenkt bekommen, sie kann sich nicht erinnern, wie die Rasse heißt. Aber so einen hatte ein alter Mann in Mariupol, der in der Nähe wohnte, er ging mit ihm immer spazieren, langsam, der Hund war auch alt, ab und an blieben sie stehen, gingen weiter. Dann schweigt sie. Ich schweige auch. Vielleicht denken wir in dem Moment das Gleiche: Ob dieser Mann mit seinem Hund es geschafft hat sich zu retten?

I. muss los, wir wünschen einander einen schönen Tag. Mir geht die Geschichte, die eigentlich keine ist, sondern nur ein Ansatz dazu, nach. Unfassbar, welche Wirkung drei Sätze über einen unbekannten Menschen mit einem unbekannten Hund entfalten können; es fühlt sich an, als würden sie die Schutzschicht der Verrohung und der Emotionslosigkeit, die ich mir angelegt habe, durchbrechen. Als würde die Betäubung, die sonst vor Schmerzen schützt, plötzlich aufhören zu wirken, obwohl ich täglich weitaus Schlimmeres sehe und lese. Ich wünsche mir inständig, dass sie beide es geschafft haben. Dass diese Geschichte ein einigermaßen glückliches Ende hat. Zugleich weiß ich, dass es Tausende von solchen Geschichten gibt, die kein glückliches Ende haben. Dass Tausende alte und junge Menschen sowie ihre Haustiere es nicht geschafft haben - aus Mariupol, Cherson, Charkiw, Isjum, Bilohirka, Popasna, Rubischne, Sjewjerodonezk, Kramatorsk, Tschernihiw, Trostjanez, Hostomel, Butscha, Irpin ... Dass ihnen das Recht auf das Leben abgesprochen wurde, weil sich eine Clique der Größenwahnsinnigen im Kreml einbildete, dass sie der Ukraine vorzugeben hat, wie man zu leben, zu denken und zu sprechen hat. Und wenn wir nicht bereit sind, nach den Vorgaben dieses menschenverachtenden Regimes zu leben, so gehören wir vernichtet. "Eine Endlösung", genau wie Timofej Sergejzew sie beschreibt.

Keine einzige Tankstelle auf der Strecke bis zur Grenze verkauft Treibstoff

Gut, dass ich wenig Zeit habe, mich noch weiter in die Gedanken zu vertiefen. Und dass ich bald wieder in unserem Viererteam im Kleinlastwagen sitze und mich mit den Kollegen im üblichen ironisch-sachlichen Gesprächston unterhalte. Keine einzige Tankstelle auf der Strecke bis zur Grenze verkauft Treibstoff. Weder Diesel noch Benzin. S. sagt, ein Nachbar aus seinem Dorf musste drei Stunden für zehn Liter anstehen. Auch deswegen ist Rumänien unsere Rettung. Die Frau an der Tankstelle fragt, ob wir aus der Ukraine seien. Auf unsere bejahende Antwort schüttelt sie mitleidsvoll den Kopf. Wir dürfen auch Kanister einfüllen. Die Hilfsgüter vom IKGS erwarten uns dieses Mal in der Tiefgarage eines Hotels, sie wurden dort schon frühmorgens ausgeladen, weil das Fahrzeug weiter nach Bosnien-Herzegowina musste. Unser Wagen kann nicht reinfahren, er ist zu hoch, zum Glück hat der Hotelangestellte eine kleine Transportkarre. Mehrere Kisten sind nämlich sehr schwer: Darin sind Kinderspielzeug, Kinderbücher und -malbücher, Seifenblasen und Puzzles. Die humanitäre Hilfe einer besonderen Art, die für uns dank der Organisation "Schüler Helfen Leben" möglich wurde. Auch eine weitere zweckgebundene Spende für Kinderbedarf erhielten wir vor wenigen Tagen vom "Brot und Bücher e. V.", diese wurde dank dem persönlichen Engagement der Schriftstellerin Tanja Kinkel möglich. Das Geld wollen wir in Absprache mit dem Verein in erster Linie in den ländlichen Gemeinden ausgeben, wo Geflüchtete mit Kindern wohnen. Hinzu kommt die Spende als "geistige Nahrung" von der Autorin selbst: Wir sind nun in Besitz ihres Gesamtwerkes, das wir in die Bibliothek des Zentrums Gedankendach integrieren.

Auf der Rückfahrt beschließen wir noch Lebensmittel zu kaufen, da es noch Platz im Wagen gibt. Aus Kaufland und Lidl gehen nun mehrere Konservensorten, Croissants, Nudeln, Tee und Desserts mit in die Ukraine. Wiederum danke ich in Gedanken zwei Damen aus Berlin, P. S. und D. K. für ihre großzügigen Beträge, die auf meine Karte direkt überwiesen wurden. Als wir im Studentendorf, wo die Lebensmittel ausgeladen werden, ankommen, ist es schon dunkel, draußen sitzen einige Bewohnerinnen und Bewohner, es ist ein warmer Abend und noch keine Ausgangssperre. Einige helfen mit. Auch eine besondere Helferin möchte sich an dem Prozess beteiligen, ein acht- oder neunjähriges Mädchen. "Sonja, es sind schwere Kisten, nichts für dich", sagt ihre Mutter, die ebenfalls mit anpackt. Mir fällt ein, dass wir doch etwas haben, was sie tragen könnte, nämlich die kleinen Kartons mit Tee. Alle vier oder fünf werden vom Fahrer dann ihr übergeben. Wir sind schnell fertig, ich frage Sonja, welches Dessert sie möchte, Vanille oder Schokolade. "Vanille", sagt, "nein, lieber doch Schokolade". Also doch die Schokolade und danke, liebe Sonja.

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