Ukrainisches Tagebuch:Geburtshilfe für eine Weltmacht

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Oxana Matiychuk arbeitet an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

In einer Klinik in Bilowodsk kommen keine Kinder mehr zur Welt, stattdessen werden Mitglieder der Wagner-Gruppe behandelt.

Von Oxana Matiychuk

Ein Bekannter von mir, der Grenzpolizist ist, kommt für ein paar Tage nach Hause aus dem Ort, wohin er für ein Jahr verlegt wurde. Sein neuer Dienstort ist Kramatorsk in der Region Donezk. Er zählte vor dem Krieg knapp 150 000 Einwohnern, nun sind den Schätzungen von D. zufolge einige wenige Tausend Einheimische geblieben, die Stadt steht regelmäßig unter Beschuss. Auch in Czernowitz kenne ich einige Geflüchtete aus Kramatorsk, es sind bestimmt Hunderte, wenn nicht Tausende. Die Stadt ist wenige Kilometer von der Frontlinie entfernt und wird nun von ganz anderen Menschen bevölkert, erzählt D., mit dem ich mich zu einem Mittagessen treffe: Denen von der Grenzpolizei, der Nationalen Garde, des Sicherheitsdienstes. Sie mieten die von ihren Besitzern verlassenen Wohnungen, die Besitzer können sich davon wiederum woanders eine Bleibe leisten. So funktioniert das. Zu kaufen sei fast alles, allerdings sind die Preise dreimal so hoch wie in Czernowitz. Aber die Besoldung reiche aus. Die Angst vor Beschüssen? Man gewöhne sich an alles, sagt D.

Dann erzählt er eine Geschichte, von der er viel mehr beeindruckt zu sein scheint, als von der täglichen Lebensgefahr durch russische Fernwaffen. Eigentlich ist es die Geschichte seiner Freundes R., Oberarzt in einer Geburtsklinik in Bilowodsk, einer Kleinstadt mit ca. 8000 Einwohnern in der Donezker Region, die sich nach dem "Waffenstillstand" 2014 auf dem durch die Ukraine kontrollierten Gebiet befand.

Der neue Inkubator für Frühgeborene war der Stolz des Ärzteteams

Dank den Spenden aus Deutschland wurde für die Geburtsklinik, wo R. arbeitete, moderne Ausstattung erworben, für mehrere zigtausend Euro. Die damalige Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck besuchte die Stadt und engagierte sich für die Belange der Klinik. Auch ein neuer Inkubator für Frühgeborene statt eines zwanzig Jahre alten Brutkasten wurde zum Stolz des Ärtzeteams und zur Hoffnung der Eltern der Frühchen angeschafft. Doch kurz nach dem Beginn des Angriffskriegs wurde Bilowodsk besetzt, die Mehrheit des Klinikpersonals ging weg, so auch R. Einige wenige Kollegen sind jedoch geblieben. Von ihnen sowie von anderen Einwohnern, die ebenfalls im besetzten Ort blieben, erhält R. ab und an Informationen. Inzwischen wurde die Geburtsklinik umfunktioniert: Wo früher Kinder zur Welt kamen, werden jetzt die Söldner der s.g. "Wagner-Gruppe" behandelt. Die "private militärische Kompanie", so die offizielle russische Bezeichnung, ist eine paramilitärische Organisation, die seit Sommer 2022 verstärkt Strafgefangene für die Kampfhandlungen in der Ukraine rekrutiert. Hinter ihr steht der als "Koch von Putin" bekannte Jewgenij Prigoschin. Kein Wunder, dass er sich den "Werten" der Wagner-Zugehörigen verbunden fühlt, immerhin hat er selbst knapp zehn Jahre im Knast verbracht. Die neuen "Patienten" haben zusätzlich zu ihren Verwundungen nicht selten auch noch Tuberkulose, Hepatitis oder AIDS, die üblichen Krankheiten der Insassen russischer Justizvollzugsanstalten, von denen der prominente Häftling Alexej Nawalny einige ganz liebevoll "freundliche Konzentrationslager" nennt. Das Schicksal der Gerätschaften, die zur Geburtshilfe dienten und schlecht für die Behandlung der verwundeten Söldner umfunktioniert werden konnten, ist unbekannt. Die Bidets und Waschbecken werden - wie oft auch anderswo - von den Kranken statt Klomuschel genutzt, vielleicht aus Unkenntnis über ihre primäre Bestimmung. Denn wer glaubt, dass hygienische Sanitäranlagen in Russland Standard sind, irrt gewaltig. Der Weltmacht geht es bekanntlich um den Geist, nicht um die Annehmlichkeiten für den Leib.

War macht denn jetzt der Oberarzt, frage ich. Er ist längst nicht der einzige in diesem Bereich, der bei Null anfangen muss. D. sagt, er sei in Dnipro und versucht dort Fuß zu fassen, einfach ist es nicht.

Nur wenige Stunden später lese ich die Nachrichten, in denen wieder von der "Wagner-Gruppe" die Rede ist. Nicht im Zusammenhang mit den Kämpfen um Bachmut, dieses Mal schreibt die russische Meduza über etwas ganz Abwegiges: In St. Petersburg wurde der Jugendclub "Wagnerjonok" gegründet. Ich muss lachen: "Wagnerjonok" bedeutet so viel wie "Wagnerlein", es ist ein Diminutiv, abgeleitet von der Bezeichnung der "Wagner-Gruppe". Und ja, ein Kosename, denn der Club rekrutiert junge Menschen zwischen 16 und 25 Jahren. Ihnen soll vor allem die "Liebe zur Heimat" beigebracht werden. Wenn das nicht eine zeitgemäße und sinnvolle Investition in den Nachwuchs der russischen Weltmacht ist, denke ich.

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