Süddeutsche Zeitung

Ukrainisches Tagebuch (XIII):Nach dem Krieg im Zoo

Wer nicht willig ist, von Russland "erlöst" zu werden, sortiert Hilfsgüter und hofft auf SMS aus dem Jenseits: Das ukrainische Tagebuch.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

"Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt." Wladimir Putin erklärt die Ziele der "Sonderoperation" in der Ukraine, indem er sich auf die Bibel bezieht. Weiter sagt er: "Die Menschen von diesen Leiden, von diesem Genozid zu erlösen, ist das Wichtigste, der Hauptgrund, das Motiv und das Ziel der militärischen Sonderoperation, die wir im Donbass und in der Ukraine begonnen haben". Der große Auftritt findet am Freitag, 18. März 2022, anlässlich der Einverleibung der Krim im Olympiastadion Luschniki statt; offiziell werden ca. 200 000 Anwesende gemeldet. Der Bericht über diese feierliche Veranstaltung steht auf dem Nachrichtenportal Meduza, das in Russland inzwischen blockiert werden soll, in der Ukraine funktioniert es noch einwandfrei.

An diesem Freitag haben wir, die wir noch immer nicht willig sind, erlöst zu werden, in Czernowitz anderes zu tun. Hier trifft eine große Hilfslieferung ein: vom Universitätsklinikum Halle, koordiniert durch die NGO "Humanitäre Hilfe Ukraine e.V." aus Leipzig. Um 8 Uhr morgens beginnt das Ausladen im Hof einer Fakultät. Es sind etwa 30 freiwillige Helfer da. Der Lkw muss schnell weg, sechs mit Kartons und Schachteln voll beladene Paletten wandern in den Hof rüber, eine Ärztin von der Kinderklinik ist dabei und hilft, die Medikamente einzuordnen. L-Thyroxin ist dabei. Ich gebe telefonisch Bescheid. Für eine Patientin werden sofort ein paar Packungen abgeholt, eine andere will in der Mittagspause vorbeikommen. Viel Kleidung, Windeln, einige Decken, Bettwäsche und Handtücher. Das meiste davon geht in die Wohnheime. Es werden aber auch Sachen für Schytomyr, Kiew und Mykolajiw zurückgelegt. Einiges ist extra für Odessa gepackt. Nach zwei Stunden sagt S., ich soll ins Büro und Dankesbriefe verfassen, es sei wichtig, dass sie noch heute verschickt werden. Die Sachen für Mykolajiw werden später von meiner Freundin O. abgeholt. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer Schwester ist sie vor zwei Wochen bei Verwandten in Iwano-Frankiwsk untergekommen. Nun wollen Mann und Schwester zurück, sie haben Schuldgefühle und halten es dort nicht mehr aus. Das erzählte mir O. tags zuvor am Telefon. Dass sie auch von dort aus Wichtiges für ihre Stadt tun, immerhin konnten sie Spenden sammeln, für Medikamente und Hygieneartikel ausgeben und diese nach Mykolajiw schicken - davon lassen sie sich nicht überzeugen. O. will nicht zurück, aber sie bleibt hier auch nicht allein. Ihre Stimme wird brüchig, meine auch. Sie gibt sich jedoch zuversichtlich, dass es unseren Soldaten gelingt, alle russischen Besatzer dorthin zu schicken, wohin das russische Kriegsschiff am ersten Tag verbal geschickt wurde. Dieser Ausdruck ist von da an wegweisend für alle "Befreier".

Und dann werde ich von ihr nach Mykolajiw eingeladen, es seien fantastisch schöne Landschaften, die sie mir zeigen wolle. Ich verspreche es, sage ich, zumal ich gestern Online-Tickets für den Mykolajiwer Zoo gekauft habe. O. lacht. Der Zoo postete auf seiner Facebook-Seite, dass viele Tiere nicht mehr ausreichend versorgt werden können, man möge Tickets kaufen, damit das Nötigste angeschafft werden kann. Mit ein paar Klicks ist das erledigt, ich erwerbe zehn Tickets, die ich am 20. März einlösen könnte, der Betrag ist ein Nichts, aber ich weiß, dass ich nicht die Einzige bin. Wir tun das in der Hoffnung, dass wir eines Tages, wenn der Krieg vorbei ist, die Landschaften von Mykolajiw und die Tiere im Zoo, die hoffentlich überleben, besuchen können.

Eine SMS von der tot geglaubten Freundin aus Mariupol - eine Nachricht wie aus dem Jenseits

Das Reisebüro meines Schwagers im Stadtzentrum wird nun auch umfunktioniert. Mit Urlauben wird es erst einmal vorbei sein. Eine Firma aus Tschernihiw zieht nach Czernowitz um. Sie ist im Agrarbereich tätig und beschäftigt landesweit circa 200 Leute. Der Firmenchef sucht jetzt Wohnungen für seine Mitarbeiter, die Tschernihiw verlassen müssen. Allerdings gibt der Immobilienmarkt in der Stadt kaum noch etwas her. Immerhin sind in dem Büro schon eine Toilette und eine kleine Spülecke vorhanden, nun wird eine Duschkabine eingebaut, eine Familie wohnt schon drin.

Am Samstag um 17.42 Uhr erscheint auf meinem Smartphone die Nachricht von R. aus Mariupol. R. schrieb am 9. März eine kurze Nachricht, seitdem waren meine an sie nicht zugestellt worden, ich prüfte den Status mehrmals am Tag. Es fühlt sich daher ein wenig an wie eine Nachricht aus dem Jenseits. Mariupol, die Hafenstadt am Asowschen Meer, die vor dem Krieg mehr als 400 000 Einwohner zählte, wird seit Wochen mit besonderer Wut vernichtet, laut dem Bürgermeister sind 90 Prozent der Wohnungen zerstört, die Zahl der Toten lässt sich nicht genau beziffern, es sind Tausende, so viel ist klar. Eine Bombe wird auf das Stadttheater abgeworfen, vor dem in Großschrift auf Russisch geschrieben steht "Kinder". In den Kellern des Theaters sollen etwa 1000 Menschen Schutz gesucht haben. Mariupol wird mit besonderer Liebe von all den Leiden erlöst. Aber R. lebt und konnte aus der Stadt rauskommen, sie versucht, sich nach Dnipro durchzuschlagen, dort hat sie Verwandte. Ich bitte R., nach Czernowitz zu kommen, wenn sie mag, für sie wäre in jedem Fall noch Platz in unserem Haus. Sie will schauen, erst einmal muss sie den Weg nach Dnipro schaffen, dann entscheidet sie weiter. Ich bin glücklich über dieses Wunder, aber ich weiß sehr gut, dass für Tausende Menschen in dieser Stadt kein Wunder mehr möglich ist.

Weitere Folgen dieser Kolumne lesen Sie hier.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5551175
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/rich
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.