Die Szenen wirken grotesk aktuell. Da warten angeheuerte Statisten in einer winterlichen Stadtlandschaft, sie sollen Opfer spielen bei einer Bombenexplosion, die es gar nicht gibt: Fake-News-Produktion, die Anweisungen kommen per Funk. Oder später, ein Volksauflauf in einer Stadt in den russlandhörigen Separatistengebieten. Ein gefangener Söldner der ukrainischen Armee, hier im Feindesland, wird an einen Laternenpfahl gefesselt und als Faschist beschimpft, immer mehr Zivilisten scharen sich um ihn und lassen ihrem Hass freien Lauf. Lynchstimmung liegt in der Luft.
Das sind keine Nachrichtenbilder, das ist der Spielfilm "Donbass" des ukrainischen Filmemachers Sergei Loznitsa aus dem Jahr 2018, der in diesen Tagen neue Aufmerksamkeit bekommt. "Jetzt sieht das alles wie eine Prophezeiung aus", sagt Heino Deckert, der den Film aus Deutschland heraus coproduziert hat - Loznitsa lebt schon länger in Berlin. Bei der Premiere vor vier Jahren ließen sich die dreizehn Episoden des Films noch als absurde Farce lesen, das ist nun vorbei. Der deutsche Verleih Salzgeber bringt "Donbass" aktuell wieder in die Kinos, im im Video-on-Demand-Angebot des Verleihs ist er ebenfalls verfügbar. Alle Einnahmen gehen an die "Queere Nothilfe Ukraine".
Auch das Filmportal filmfriend.de, abrufbar mit fast jedem öffentlichen Bibliotheksausweis, hat "Donbass" in einen aktuellen Themenschwerpunkt aufgenommen, der den gesamten Verfall des Sowjetreichs umfasst, aber auch ukrainischen Filmemachern in der aktuellen Lage neue Sichtbarkeit verleiht. Unter den Filmen ist auch die Dokumentation "The Trial: The State of Russia vs. Oleg Sentsov", der vom russischen Schauprozess gegen Oleg Senzow handelt, der von der Krim stammt. Der ukrainische Regisseur war 2015 von einem russischen Gericht wegen seiner Proteste gegen die Annexion der Krim zu zwanzig Jahren Straflager verurteilt worden und kam 2019 in einem Gefangenenaustausch frei. Seither arbeitet er wieder, aktuelle Fotos auf Social Media zeigen ihn in Kampfmontur.
Ukrainische Filme sind hochpolitisch und sehenswert
Der Frankfurter Verleih jip film hat einen Dokumentarfilm von Alina Gorlowa, "This Rain Will Never Stop", für 24. März ins Programm genommen, auch wenn das in "diesen Tagen nur ein kleiner Beitrag sein kann", wie es in einem Statement heißt. Der Film porträtiert den 20-jährigen Andriy Suleyman, der 2012 mit seiner Familie aus dem Syrienkrieg in die Ukraine floh, um dort kurz darauf in die Revolution und in den Donbass-Konflikt zu geraten. Seine Entscheidung, als Freiwilliger beim Roten Kreuz zu arbeiten und die neue Heimat nicht zu verlassen, wird zu einem existenziellen Essay über Zugehörigkeit und persönliche Verantwortung. Gorlowa berichtet auf Facebook von ihrem Kriegsalltag in Kiew.
Der wohl präsenteste Dokumentarfilm über die Ukraine ist derzeit "Winter on Fire", der seit seiner Fertigstellung 2015 auf Netflix verfügbar ist. Der Streamingdienst hat den Film vergangene Woche auf Youtube frei zugänglich gemacht. Darin lässt sich der Krieg zu seinen Ursprüngen zurückverfolgen, zu den Euromaidan-Protesten im Winter 2013/2014. Der Filmemacher Jewgeni Afinejewski verwebt Interviews mit Handykameramaterial zu einer Art Tagebuch der Protestierenden - als Gegenperspektive zu den offiziellen Statements der Politiker, wie er selbst sagt. Sein Film ordnet die Ereignisse kaum ein, wirft die Zuschauer hinein in Straßenkämpfe und Sanitätszelte.
Auch Sergei Loznitsa hat die Proteste in seinem Cannes-Beitrag "Maidan" (2014) dokumentiert. Eher als zurückgenommener Augenzeuge, er heroisiert nicht, sondern beobachtet, was in seiner Heimatstadt damals vor sich ging. Der deutsche Verleih Grandfilm zeigt "Maidan" im hauseigenen Digitalangebot. Der Arthouse-Streaminganbieter Mubi.com hat einige von Loznitzas früheren Filmen versammelt und gibt einen Überblick seiner stetigen Auseinandersetzung mit der sowjetischen Geschichte und deren dunklen Nachwirkungen sowie seiner vielfachen weiteren Interessen.
Vergangene Woche kritisierte Loznitsa die ersten Statements der Europäischen Filmakademie (EFA) zum Kriegsbeginn als verharmlosend - und trat mit einem offenen Brief aus der Akademie aus, nachdem diese den Ausschluss russischer Filmschaffender von der diesjährigen Preisverleihung des Europäischen Filmpreises verkündet hatte. Niemand dürfe allein wegen des Geburtsorts verurteilt werden, hielt Loznitsa dagegen, man müsse alle unterstützen, die sich gegen das russische Regime stellen - unabhängig vom Reisepass.
Neben Regisseuren wie Loznitsa und Senzow, die auf großen Festivals schon gefeiert wurden, gibt es weitere Filmtalente aus der Ukraine zu entdecken. Da ist Kateryna Gornostai mit "Stop Zemlia" (2021), Walentin Wassjanowytsch mit "Reflection" (2021), der voriges Jahr in Venedig vorgestellt wurde, oder Maryna Er Gorbach mit "Klondike" (2022), der gerade erst auf dem Sundance Festival und auf der Berlinale lief. Die deutsche und internationale Filmszene arbeitet daran, diese Filme jetzt zugänglich zu machen. Heino Deckert, der mit seiner Leipziger Produktionsfirma Ma.ja.de großen Anteil daran hat, sieht die aktuelle Kreativität und Präsenz des ukrainischen Kinos eng mit dem politischen Schicksal des Landes verknüpft: "Das ist eine richtige Welle seit der Zeit nach dem Maidan", sagt er.