Netzkolumne:Ist da jemand?

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Im Studio des amerikanischen Ostblock-Senders Radio Free Europe in München. Heute setzen Aktivistengruppen wie Squad303 auf soziale Medien, um die Russen wachzurütteln. (Foto: imago images)

Auf der Website 1920.in kann man von der Couch aus SMS-Nachrichten über den Ukraine-Krieg nach Russland schicken. Hilft das?

Von Michael Moorstedt

Der Informationskrieg hat asymmetrische Fronten. Los ging es mit Nachrichten auf Bewertungsseiten russischer Restaurants oder Geschäfte. Hier sollte man die Wahrheit über den Angriff auf die Ukraine schreiben, um die Bürger, die hinter den Informationssperren des Kreml ahnungslos bleiben, wachzurütteln.

Seit viele Online-Dienste von Russland gesperrt wurden, kommt man mit dieser Strategie nun nicht mehr weit. An diese Stelle versucht nun ein polnisches IT-Kollektiv mit dem Namen Squad3o3 zu treten. Die Aktivisten haben die Website 1920.in gestartet. Von hier aus kann man SMS-Nachrichten oder E-Mails nach Russland schicken oder Russen anrufen.

Die Website arbeitet mit einer Datenbank von fast 140 Millionen russischen E-Mail-Adressen und 20 Millionen Handynummern. Woher die Telefonnummern und anderen Kontakte kommen? Darüber hält man sich bedeckt. Ein Sprecher der Gruppe gibt an, man hätte diese persönlichen Informationen durch den Hack einer "russischen Datenbank" erhalten.

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Man kann aus einer ganzen Reihe von Nachrichten in kyrillischer Schrift auswählen. Übersetzt steht dann zum Beispiel Folgendes: "Hallo, mein russischer Freund, wir kennen uns nicht, aber ich habe beschlossen, Ihnen zu schreiben. Ich habe gehört, dass sich die Situation in Russland aufgrund der Reaktion auf die brutale russische Invasion in der Ukraine zu verschlechtern begonnen hat. Wie geht es dir?"

Wer sich das gute Gewissen online holt, hilft im echten Leben eher weniger

Es handelt sich also eher um eine Aufforderung zum Dialog als um plumpe Vorwürfe oder Belehrungen. Ein Sprecher der Hackergruppe vergleicht die Bemühungen mit Projekten aus der Zeit des Kalten Krieges, wie dem von den USA finanzierten Radio Free Europe, das via Kurzwelle in mehreren Sprachen über den Eisernen Vorhang hinweg ausstrahlte.

Man schickt also Nachrichten, deren Inhalt man im Zweifel nicht versteht, an Nummern, deren Inhaber man nicht kennt. Das ist schon ein bisschen arg mittelbar. Eher verzweifeltes Rufen ins Dunkel als zielgerichtete Kommunikation im Auftrag des Friedens. Trotzdem gibt es auf Twitter bereits einen Wettstreit, um die Frage, wer die meisten SMS in Richtung Russland verschickt. 6000, sagt einer, habe er persönlich versendet. Und immer wieder berichten Nutzer der Website auch von Antworten. Viele Beleidigungen sind darunter oder auch das Wiederkäuen der offiziellen Propaganda. Aber einige Angeschriebene lassen sich auf ernsthafte Dialoge ein.

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Ist das schon echtes Engagement oder nur jener berüchtigte Slacktivism, der gemütliche Online-Aktivismus von der Couch? Es gibt bereits Untersuchungen, die besagen, dass das Mitmachen per Mausklick eher negativ mit der Bereitschaft korreliert, tatsächlichen Einsatz zu zeigen, zu spenden oder gar auf die Straße zu gehen. Kritiker sind der Meinung, dass das, was Menschen unter politischem Handeln im Internet verstehen, nur wenig über ihre politische Identität aussagt. Es ist dann eher Teil ihrer momentanen Situation oder Verfassung. Viele nutzen das Internet auch, um sich selbst zu therapieren.

Reicht es also aus, mit ein paar Klicks etwas gegen das eigene Ohnmachtsgefühl unternommen zu haben? Aber warum sollte eine Handlung weniger wert sein, nur weil sie online vollzogen wird? Besteht gar eine "moralische Verpflichtung" der Bürger des Westens, die Informationssperren der russischen Regierung zu umgehen, wie Thomas Kent, ehemaliger Präsident von Radio Free Europe, kürzlich sagte? Bis letzten Freitag, so behauptet die Gruppe, seien jedenfalls bereits mehr als 30 Millionen Nachrichten verschickt worden.

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