"Maidan" im Kino:"Leib und Seele geben wir"

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Bilder, deren ästhetische Qualität dem historischen Moment angemessen ist: Menschen auf dem Maidan, aufgenommen von Sergei Loznitsas Kamera. (Foto: Grandfilm)

Revolution als großes Kino: Sergei Loznitsas Doku "Maidan" zeigt facettenreich auf, wie aus friedlichen Protesten gekränkter Menschen Krieg wurde.

Von Martina Knoben

Sie sind das Volk: Eine Drehtür spuckt einen nach dem anderen Menschen aus - das sind Akteure dieses Films, unzählige namenlose Einzelne, zusammen eine Menge, die Geschichte schreiben wird.

Im Vorspann zu Sergei Loznitsas Dokumentarfilm hatte man sie in einem Panoramabild gesehen: Zahllose Köpfe, dicht an dicht, Männer und auch viele Frauen, die die ukrainische Nationalhymne singen. Sie blicken ernst, haben Hut oder Mütze abgenommen, viele legen die Hand auf die Brust. "Leib und Seele geben wir für unsere Freiheit", singen sie.

Es ist der Beginn einer Revolution, die später "Euromaidan" heißen wird. Auslöser war im November 2013 die Ankündigung der ukrainischen Regierung Viktor Janukowitschs, ein lange verhandeltes Abkommen mit der Europäischen Union doch nicht zu unterzeichnen.

Das führte zu zunächst friedlichen Massenprotesten, schließlich zu blutigen Straßenschlachten mit mehr als hundert Toten, woraufhin Janukowitsch nach Russland flüchtete. Fast hatte man diesen Sieg der europafreundlichen Ukrainer schon vergessen, war er verdrängt vom Entsetzen über die Annexion der Krim und den Krieg im Osten der Ukraine.

Als Loznitsa damals von den Demonstrationen hörte, reiste der in Weißrussland geborene, in Kiew aufgewachsene und nun in Deutschland lebende Regisseur spontan nach Kiew und drehte dort von Mitte Dezember 2013 bis Februar 2014 auf dem Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan.

Die vielen Facetten der Revolution - in langen Einstellungen

Sein Film ist ein seltener Glücksfall. "Wann bekommt man das nächste Mal wieder die Gelegenheit, solch eine Revolution live zu beobachten?", hat Loznitsa über seinen eigenen Film gesagt und sich gewundert, dass so wenig professionelle Filmemacher auf dem Platz gedreht haben. Loznitsa erkannte nicht nur die Bedeutung der Ereignisse - er dokumentierte sie darüberhinaus in Bildern, deren ästhetische Qualität dem historischen Moment angemessen ist.

Dafür hat er die Kamera aufs Stativ gestellt und beobachtet in langen, statischen Einstellungen die vielen Facetten der Revolution. Es gibt keinen Kommentar und keine Interviews - "Maidan" steht in der Tradition des Direct Cinema, des beobachtenden Dokumentarfilms, der allerdings gern mit der Handkamera Menschen und Ereignissen hautnah hinterherjagt. Das war mal eine neue, mitreißende Art, Welt einzufangen - heutzutage gibt es eher zu viele Schnappschüsse. Und so sehr Wackelbilder Nähe suggerieren, fassbarer, begreifbarer wird ein so beobachtetes Geschehen nicht.

Die Kamera ist hier die Instanz, die Ordnung ins Chaos bringt

Statt sich mitreißen zu lassen, vielleicht sogar selbst zum Aktivisten zu werden, bleibt Loznitsa auf Distanz - so bleibt Platz zum Verstehen. Nur einmal wird die Kamera vom Geschehen überwältigt, als die Kämpfe zwischen den Demonstranten und der Polizei eskalieren: "Sie schießen auf Journalisten", schreit ein Mann, und da torkelt auch Loznitsas Kamera, fällt oder wird umgerissen.

Dabei ist sie - zusammen mit der Tonspur - die Instanz, die etwas Ordnung ins Chaos bringt. Es gibt nicht nur keinen Kommentar, sondern wie in früheren Filme Loznitas - "Heute bauen wir ein Haus", 1996, oder "Blockade", 2005 - gibt es auch keine Hauptfigur, an die sich der Zuschauer halten könnte.

"Maidan" studiert die revolutionäre Masse. Loznitsas Einstellungen erinnern an Gemälde, in Gesprächen nennt er die kleinteiligen Bilder von Brueghel und Eugène Delacroix, Maler unter anderem des berühmten Revolutionsbildes "Die Freiheit führt das Volk" (1830) mit der barbusigen Marianne auf den Barrikaden.

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Dazu passt, dass der Regisseur am liebsten auf 35- oder sogar 70-Millimeter-Film gedreht hätte. Revolution, das ist großes Kino. "Maidan" geht denn auch über die Dokumentation des einen historischen Ereignisses weit hinaus, ist eine Studie revolutionären Handelns: Was formt aus vielen Einzelnen eine Bewegung? Und wie wird eine solche Masse radikalisiert?

Ausführlich hält der Film am Anfang die friedliche, volksfesthafte Stimmung um den Maidan fest. Es werden Plakate gemalt, heißer Tee ausgeteilt, im Hintergrund klimpert jemand "Bésame mucho".

Vor allem aber sind immer wieder ukrainische Lieder zu hören und Gedichte gegen ein als kriminell empfundenes Regime. Was bei uns "Euromaidan" heißt, wird in der Ukraine "Revolution der Würde" genannt, und auch ohne dass der Film Zahlen und Fakten nennen müsste, spürt man die tiefe Kränkung dieser Menschen, ihre Leidensbereitschaft und dass es sich bei diesen Protesten um eine Volksbewegung handelt.

So lange beobachtet der Film geduldig die friedlichen Proteste - die Versorgung der Demonstranten durch Großküchen, die Reden auf einer großen Tribüne, Auftritte von Priestern, einen Kinderchor - dass der Zuschauer, genauso wie die Demonstranten, ungeduldig wird: Es möge doch endlich etwas passieren . . .

Da eskaliert der Konflikt. Und als Steine fliegen, Flammen die Nacht in ein rosafarbenes Licht tauchen oder dunkler Rauch von brennenden Reifen den Himmel schwärzt, haben die Bilder jeden Naturalismus verloren.

Diese Aufnahmen erscheinen unwirklich, und sie behalten ihre Fremdheit auch beim längeren Sehen: Wenn die Polizei mit scharfer Munition auf Demonstranten schießt, Tote und Verletzte weggetragen werden oder ein Polizist auf einem Dach angeschossen wird - dann sind das Beobachtungen eines Ausnahmezustands.

Die Stimme aus dem Mikrofon lässt einen spüren, dass Krieg ist

Entscheidend für die Atmosphäre ist immer wieder die Tonspur. Das Volksfesthafte des Anfangs, die zunehmende Anspannung, all das vermittelt sich vor allem auch über die Lieder, Gedichte, Gitarren- oder Trompetenklänge, die zu hören sind, oft ohne dass man die Sprecher oder Sänger ausmachen könnte.

Besonders eindringlich wird das am Ende, als die Straßenkämpfe eskalieren. Da ruft eine Stimme aus dem Mikrofon der Maidan-Bühne, der zentralen technischen Anlage des Generalstabs der Aufständischen, immer wieder, am Ende fast überschnappend nach Ärzten, die dringend, dringend gebraucht würden. Da spürt man, dass Krieg ist, dass gerade Menschen verletzt werden und sterben.

Loznitsa kommentiert das alles nicht, es ist vielleicht Stellungnahme genug, dass seine Kamera bis zum Schluss auf der Seite der Demonstranten bleibt. Die Dynamik der Revolution ist schrecklich genug: In den Bildern der Straßenschlachten und der Totenfeier am Ende lässt sich die künftige blutige Entwicklung in der Ukraine schon erahnen.

Maidan, Ukraine/Niederlande 2014 - Regie, Buch: Sergei Loznitsa. Kamera: S. Loznitsa, Serhiy Stefan Stetsenko. Schnitt: S. Loznitsa, Danielius Kokanauskis. Verleih: Grandfilm, 133 Minuten.

© SZ vom 07.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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