Süddeutsche Zeitung

Exilpremiere in Stuttgart:Höher fliegen

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Das Staatstheater Stuttgart zeigt eine Premiere, die in Kiew wegen des Kriegs nicht stattfinden konnte. Im Publikum sitzen auch zahlreiche ukrainische Familien. Über einen unvorstellbaren Abend.

Von Christiane Lutz

Am 23. Februar 2022, dem Abend vor der Generalprobe, geht Regisseur Yurii Radionov mit einer Schauspielerin zur Bahnhaltestelle. Yurii, sag mir bitte, wird es Krieg geben? fragt sie ihn besorgt. Nein, verspricht er ihr, es wird keinen Krieg geben. Er glaubt das selbst noch in dem Moment, schließlich hat Präsident Selenskij das auch immer wieder so versichert. Außerdem war der Februar anstrengend, jeden Tag Proben für das neuen Stück "Zal'ot" von Ludmilla Tymoshenko, das am 25. Februar Premiere im Malyi Teatr in Kiew haben soll, da blieb nicht viel Zeit für Grübeln. Am nächsten Tag dann fliegen in den frühen Morgenstunden die ersten Raketen auf Kiew. "In der Stadt herrschte totale Panik", sagt Yurii Radionov, "es war klar: Hier passiert heute gar nichts im Theater". Heute nicht, morgen auch nicht. Wenn Krieg ist, feiert man keine Premiere.

Drei Monate nach diesem Tag sitzt Yurii Radionov in der Kantine des Staatstheaters Stuttgart, ihm gegenüber Dramatikerin Ludmilla Tymoshkeno. Beide sehen aus, als wüssten sie selbst nicht recht, wie sie hierher geraten sind. Kausal ist das einfach: Sie folgen einer Einladung des Staatstheaters, hier die Exilpremiere von "Zal'ot" nachzuholen. Das längst verstreute Produktionsteam ist da, einige kamen mit Sondererlaubnis des ukrainischen Kulturministeriums aus Kiew, Regisseur Radionov flog aus Manchester ein, wohin er mit seiner Familie geflüchtet war, Dramatikerin Tymoshenko ist kurz nach Kriegsbeginn an der Akademie Schloss Solitude untergekommen, das Staatstheater Stuttgart hat sie zur "Artist in Residence" gemacht. Emotional ist für die Künstler schwer in Worte zu fassen, was da gerade passiert. "Mein erstes Gefühl bei Kriegsausbruch war Angst", sagt Tymoshenko, "das zweite Gefühl war Traurigkeit darüber, dass die Premiere nicht stattfinden konnte".

Radionov, 35, legt den Kopf schief: "Dass wir jetzt hier sind, alle zusammen, unter komplett veränderten Vorzeichen, das ist schön, aber noch viel schmerzhafter." Die ukrainische Kultur dürfe nicht sterben, die ukrainische Sprache nicht verstummen, sie soll zu hören sein, laut. Deshalb ist er hergekommen, deshalb spielen sie hier.

Aktivismus für die gute Sache, das ist auf den Bühnen auch schon peinlich schief gegangen

Theater suchen in Krisenzeiten nach Möglichkeiten, Kunst mit Aktivismus anzureichern und Zeichen der Solidarität zu setzen. Das gelingt nicht immer. In den Jahren nach 2015 wurden im Übereifer Geflüchtete landauf landab auf Bühnen gezerrt und mussten Fluchtgeschichten erzählen, währen das Abo-Publikum betroffen gucken durfte. Wem das nutzte, war fraglich. Dass diese Einladung des Malyi Teatrs nach Stuttgart nicht nur eine wohlfeile Geste des Staatstheaters ist, beweist der große Ansturm auf das kleine Kammertheater am Abend, beziehungsweise die Sprache, die man sehr laut hört, nämlich Ukrainisch.

"Fähnchen raushängen ist leicht", sagt Intendant Burkhard C. Kosminski, "wir haben überlegt: Was brauchen die Künstler wirklich? Geld und Spielmöglichkeiten." Also handelte er, alles musste schnell gehen. Ungläubig schaut er, wer da jetzt so die Treppen zum Theater heraufkommt. Die kennt er zum großen Teil gar nicht, fantastisch. Das Kommunikationsteam des Theaters hat ganze Arbeit geleistet und Geflüchtete eingeladen, und sie sind gekommen. "Ich geh eigentlich gar nicht ins Theater", sagt eine ältere, herausgeputzte Ukrainerin, aber sie las auf Facebook, dass es hier heute ukrainisches Theater gibt, also kam sie. Mehr als 200 Menschen drängen sich bis auf die Treppenstufen im Theaterraum, auch viele Kinder sind da. Der technische Direktor wird gleich mehrere Augen zudrücken müssen, sicherheitstechnisch ist das alles andere als vorschriftsmäßig, aber soll man jetzt wirklich Menschen nach Hause schicken, die vor dem Krieg geflohen sind, nur weil das die deutsche Brandschutzverordnung vorsieht?

Mit 20 Minuten Verspätung beginnt die Vorstellung. Mit "Zal'ot" hat Ludmilla Tymoshenko eine von realen Erlebnissen inspirierte Coming-of-Age Geschichte geschrieben. Es sind die postsowjetischen Neunzigerjahre in der Ukraine, das Land ist jung und etwas orientierungslos, wie die Hauptfigur Lida. Deren Traum ist es, Flugbegleiterin zu werden. Ihre Mutter ist eine gebrochene Frau, arbeitslos, das Geld fehlt an allen Enden. Lidas Freund Andriy ist ein hibbeliger Teenagerjunge, der sie permanent erfolglos zum Fummeln bewegen will.

Natürlich ist das Stück gar nicht geeignet für Kinder

Als ein Freund ihres verstorbenen Onkels ihr bei der Aufnahme in ein wichtiges Fremdsprachenprogramm helfen will, scheinen alle Probleme gelöst. Dann fordert der Professor als Gegenleistung Sex. In letzter Minute reißt sich Lida los. An der Stelle halten sich ein paar Mädchen die Augen zu, einige verlassen den Saal. Betretene Gesichter bei den Theaterleuten. Natürlich ist "Zal'ot" nicht geeignet für Kinder. Aber vielleicht ist es möglich, dass schon die Stunde Gemeinschaft Kindern und Eltern mehr Trost gespendet hat, als die Szene Schaden anrichten kann.

"Zal'ot", auf deutsch so viel wie "Fliegen", im ukrainischen aber auch ein geflügelter Ausdruck für "Sich etwas eingefangen haben", etwa eine Schwangerschaft, ist ein komisch-düsteres Kammerspiel, teils Teenage-Lovestory, teils "Me too"-Drama mit ungewissem Ausgang. Die vier Kiewer Schauspieler pfeffern ihren Text ins Publikum, als sei es das größte Anliegen jemals. Sie spielen auf kleinem Raum mit nur einem Küchenschrank und einem Bettgestell als Requisit. Die Ukrainer lachen zuerst, die Deutschen lachen etwas später, sie müssen auf die Übertitel warten. Trotz des harten Stoffs herrscht eher Partyatmosphäre im Raum, den langen Applaus am Ende begleiten "Vivat Ukraine"-Rufe.

Die Geschichte stand lang vor dem Krieg fest, trotzdem findet Regisseur Yurii Radionov, dass das Bild der versuchten Vergewaltigung auch zur Kriegslage passt. "Da versucht gerade ein Land, sich eines anderen zu bemächtigen", sagt er beim Gespräch vorab. Diese Metapher muss man nicht angemessen finden, es genügt, zu verstehen, dass es sich für die Ukrainer so anfühlt. Mit dem Wissen bekommt auch der letzte Satz des Stücks eine ganz neue Dimension: "Ich bin euer Lehrer", wendet sich der Professor ans Publikum, "wer geht als nächstes an die Tafel?"

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