Überwachung:Wenn Überwachung Spaß macht

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Wir tragen mit Smartphones und Fitness-Trackern Überwachungstechnologien mit uns herum, die jeden Schritt und Herzschlag registrieren.

(Foto: Daniel Ingold/imago/Westend61)

Fitnessarmband, Facebook-Livestream. Die spielerische Überwachungskultur unserer Zeit verdeckt deren eigentlichen Zweck: die totale Ausleuchtung von Personen.

Von Adrian Lobe

Der öffentliche Raum wird immer besser überwacht. Nach Angaben von Marktforschern (IHS Markit) werden in China bis zum Jahr 2020 mehr als 600 Millionen Überwachungskameras installiert sein. Peking ist faktisch totalüberwacht. In Städten wie Shenzhen, Chongqing und Fuzhou wurden Gesichtserkennungssysteme installiert, die Verkehrssünder, die bei Rot über die Straße laufen oder zu schnell fahren, identifizieren und auf einem riesigen Bildschirm öffentlich an den Pranger stellen. In Studentenwohnheimen müssen sich Studenten mit ihrem Gesicht ausweisen. Und in Klassenzimmern werden "Face-Reader" getestet, welche die Emotionen analysieren und feststellen, ob die Pennäler gelangweilt sind.

Das Interessante an dem Phänomen ist, dass Big Brother nicht jede Haustür überwacht, sondern ein dezentrales Netz von Little Brothers jeden Straßenzug kontrolliert. Denn auch wir tragen mit Smartphones und Fitness-Trackern Überwachungstechnologien mit uns herum, die jeden Schritt und Herzschlag registrieren. Insofern weben wir das Überwachungsnetz fleißig mit. Doch woran liegt es, dass wir Geräte, die einst als Gefahr für unsere Privatsphäre galten, freiwillig am Arm und in der Hosentasche tragen?

Überwachung fühlt sich nicht mehr wie Unterdrückung an. Sondern wie Spaß

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch "Under Surveillance: Being Watched in Modern America" eine interessante Theorie entwickelt. Er spricht in Anlehnung an Benthams Überwachungs-"Panopticon" von einem "Funopticon", einer Überwachung, die Spaß macht. Lewis führt das Funopticon als Konzept für die zunehmend "spielerische Überwachungskultur" im 21. Jahrhundert ein: "Selbst wenn sich Überwachung auf eine Art und Weise in unsere Körper schleicht, die viele Leute als demütigend und ausbeuterisch empfinden, tut sie gleichsam etwas anderes: Sie operiert in einer Weise, die sich nicht immer unterdrückend und schwer anfühlt, sondern wie Freude, Bequemlichkeit, Wahlfreiheit und Gemeinschaft.

Mit anderen Worten: Personelle Entwürdigung existiert zunehmend in einer Dialektik mit neuen Modi der Verzauberung, Vernetzung und Unterhaltung, die die unheilvolle Logik des Panopticons, das Bentham für die Strafreform vor mehr als zwei Jahrhunderten vorschlug, herausfordert." Dem Überwachungskapitalismus gelingt es, durch ein semantisches Vexierspiel eine funktionale elektronische Fußfessel als smartes Fitnessarmband zu vermarkten. Der britische Geograf Nigel Thrift hat dafür den Begriff des "Sicherheits-Entertainment-Komplexes" geprägt. Was bei Orwell noch als düstere Dystopie beschrieben wird - ein Monitor-gefluteter Ort, an dem es "keine Dunkelheit gibt" -, wird in der smarten neuen Welt zum Möglichkeitsraum der Selbstverwirklichung.

Wir haben Spaß, unsere gelaufenen Kilometer samt GPS-getrackter Joggingroute in sozialen Netzwerken zu teilen - die Quantified-Self-Bewegung hat dies gar zum Lifestyle erkoren - und Profile über uns anzulegen, was eigentlich ein kriminalistisches Dispositiv ist. Auf Facebooks "Live Map" kann man auf einer Weltkarte wie in einem Kaleidoskop jeden Livestream einschalten und die Welt in Echtzeit sehen, als wäre Überwachung Fernsehen: ein Sambatänzchen in Rio oder ein Fußballspiel in Thailand. "Indem Überwachung verweichlicht und normalisiert wird und dabei eine Quelle der Angst und Furcht in einen Quell der Freude verwandelt, könnte es die lärmende Karnevalisierung der Überwachung aus Gründen der Hoffnung und Sorge verstärken", schreibt Lewis.

Der Hamburger Soziologe Nils Zurawski schlägt in dieselbe Kerbe. Der Grund, warum sich Menschen solche Gadgets zulegen, liege darin, Distinktionsmerkmale zu setzen. Es sei "schick und trendig", man könne damit zum Ausdruck bringen, dass man zu einer bestimmten Gruppe gehört. Das Auto verliere für bestimmte Milieus seine Funktion als Statussymbol, da sei das Elektronikspielzeug ein Ersatz. "Sich überwachen lassen zu können, also elektronische Diener und Domestiken haben zu können, ist auch ein Ausdruck von Distinktion, definitiv ein Statement, vielleicht auch die Aussage, ich habe keine Angst vor der schönen neuen Welt, ich gehöre dazu, präge sie mit, ich bin nicht abweichend, sondern leiste mir den Luxus", konstatiert Zurawski. "Die Überwachung ist so unmerklich in unseren digitalen Alltag eingebettet, dass wir die Mittel als Konsumartikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen, dass der Prozess der Überwachung, der Normierung, der Steuerung entweder nicht auffällt oder die dahinter stehenden Herrschaftsverhältnisse egal werden."

Mit omnipräsenten Videokameras wird unser Leben zum Stream

2012 versuchte Coca-Cola in einem Werbeclip, Überwachung zu ästhetisieren und in einem Ton der Beiläufigkeit die vermeintlich schönen Seiten der Überwachung aufzuzeigen: Ein Paar, das sich auf einer Parkbank küsst, Menschen, die vor U-Bahn-Eingängen tanzen, Leute, die mit Taucheranzug und Fischernetz aus einem Aufzug steigen, mutige Kunden, die einen Ladendieb überwältigen. Die Welt ist gut, lasst uns alle happy sein - diese Botschaft will der Werbespot vermitteln. Mit der omnipräsenten Videoüberwachung wird unser Leben zum permanenten Stream. TV-Sender speisen Bilder aus Überwachungskameras in ihr Programm als "Low-Cost- Infotainment" ein, das redaktionell nicht weiter bearbeitet werden muss. Man schaut einfach drauf. Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von Monitoring-Apps, bei denen man sich als billiges Unterhaltungsfernsehen in den Stream von Überwachungskameras einloggen und wie in einem Computerspiel die Überwachungsaufgabe eines Sicherheitsdienstes in einem Parkdeck oder Kaufhaus simulieren kann. Manche Apps erlauben dem Nutzer sogar hineinzuzoomen, Snapshots zu machen und die Bilder via MMS zu verschicken.

Die Auswertung von Bildern aus Videokameras bedient einen gewissen Voyeurismus. Lewis schreibt in seinem Buch, wie sich junge Männer daran aufgeilen, Frauen auf die Brüste zu zoomen und zum sexuellen Objekt zu degradieren. Die Männer verspüren Freude daran; das heimliche Beobachten in einem abgeschotteten Raum, das Gefühl, jemanden aus der Ferne zu kontrollieren und virtuell abzutasten, berge einen Reiz des Verbotenen. Surveillance werde zu "perveillance", einer pervertierten Form der Überwachung.

Mit omnipräsenten Videokameras wird unser Leben zum Stream

Doch die Beobachtung bleibt nicht immer unbeobachtet. Das Atlantic City Hotel Casino wurde zu einer Strafe von 80 000 Dollar verdonnert, weil Mitarbeiter 2001 mit Überwachungskameras Frauen im Kasino begafften. Ein paar Jahre später wurde ein Überwachungsdienst in Belfast verurteilt, weil er mit seinen Kameras eine junge Frau über einen Zeitraum von acht Monaten zum Zweck der "Triebabfuhr" ausspähte. Die finnische Genderforscherin Hille Koskela schrieb 2002 in "Peeping Tom Goes High Tech?", dass Videoüberwachung einen virtuellen Raum aufspanne, in dem sexualisierte Gewalt möglich sei - eine Art Versteckspiel wie in dem Thriller "Augen der Angst" (1960), in dem der unscheinbare Kameramann Mark Lewis tagsüber in einem Filmstudio arbeitet und nachts Frauen unter einem Vorwand vor die Kamera lockt - und demütigt. Kulturwissenschaftler Lewis erblickt darin eine Dialektik: "Wo Überwachung pornohaft wird, schaut Pornografie wie Überwachung aus."

Der Geograf David Bell identifiziert eine aufkommende "Überwachungsästhetik", die sich durch visuelle Medien, vor allem Pornofilme ziehe, "wo die Überwachungstechnologien das Narrativ, die Handlung und die Optik strukturieren". Die Rezeption von Pornofilmen und Überwachungsbildern, die Fiktion einer Intimität zwischen Betrachter und Darsteller, ist ähnlich. Die perverse Logik an der Überwachung ist, dass man sich gewissermaßen prostituieren muss, um nicht als verdächtig zu gelten. Dieses Sich-nackt-Machen ist ein struktureller Imperativ, der der Überwachungsgesellschaft eingeschrieben ist. Das vermeintlich Spielerische der Überwachung verdeckt den eigentlichen Zweck: die totale Ausleuchtung von Personen. Wenn die Freiheit auf dem Spiel steht, ist das freilich kein Spiel. Doch für einen Rückbau des militärisch-industriellen Überwachungskomplexes ist es wohl zu spät. Lewis schreibt: "Ich fürchte, dass wir ein Gaudi-Las-Vegas des Verstands bauen, eine glatte Zone mechanisierten Misstrauens, wo wir immer unter Beobachtung stehen."

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