Überlebenskunst:Zauber der Ablenkung

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Welches Buch bietet Trost, welcher Film beruhigt die Nerven, welches Kunstwerk weitet den Blick? Empfehlungen für beispiellose Zeiten. (Foto: N/A)

Wie war das nochmal wirklich mit Im-Zimmer-Bleiben? Warum die "Pensées" des Blaise Pascal jetzt das richtige Buch sind.

Von Johanna-Charlotte Horst und Marie Schmidt

In den letzten Wochen war ein Zitat immer wieder zu hören, weil es so unheimlich gut zum Moment zu passen schien. Blaise Pascal, der französische Rationalist, Mathematiker und tief religiöse Philosoph des 17. Jahrhunderts, habe schon gesagt, dass das Unglück der Menschen daher komme, "dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können."

Das wird zu normalen Zeiten oft augenrollend und ironisch zitiert, letzte Woche schien es plötzlich im Ernst auf Picknickende und Feiernde zuzutreffen, die sich in Parks und Cafés fanden, statt zu Hause soziale Distanz zu wahren.

Das tatsächliche Glück liegt für Menschen nur in der Ruhe, nicht im Tumult

So kann Pascal das natürlich nicht gemeint haben. Womöglich ist jetzt also der Moment, in den "Pensées" nachzugucken, seinen "Gedanken über Religion und über einige andere Themen", die man nach seinem Tod aus Fragmenten, einer Art Zettelkasten, zusammengesetzt hat. Da steht die berühmte Sentenz als Teil eines längeren Satzes in einem Abschnitt über "Zerstreuung".

Pascal schlägt darin keinen spöttischen Ton an, eher entwickelt er eine mitfühlende Anthropologie, eine frühe Psychologie, obwohl es diese Wissensform zu seiner Zeit noch nicht gab. Er meint etwas, das wir alle in diesen Wochen unter den Ausgangsbeschränkungen spüren. Dass der Mensch nicht ruhig in seinem Zimmer bleiben "kann", formuliert Pascal nicht als Vorwurf mangelnder Selbstdisziplin, sondern es ist eine Beschreibung: Er kann es wirklich nicht, es ist ihm nicht gegeben, es gehört zu seiner Conditio, dass er sich ablenken muss.

Wovon? "Da die Menschen nicht Tod, Elend und Unwissenheit heilen konnten, sind sie, um sich glücklich zu machen, auf den Einfall gekommen, nicht daran zu denken." Alles Streben, "kühne und oft unheilvolle Unternehmungen", Spiele, Konflikte und "Mühsal der Ämter" dienen nicht vorgeblichen Zwecken, sondern der Ablenkung von der Kreatürlichkeit und den Grenzen der Existenz. Die Menschen dafür zu tadeln, schreibt Pascal, hieße, "nicht die wirkliche Natur des Menschen zu verstehen". Für genauso verblendet hält er allerdings diejenigen, die wirklich an ihre "Zwecke" glauben und sich nicht gut genug kennen, um die Zerstreuung selbst als Quelle ihrer Zufriedenheit zu sehen.

Neben dem Bedürfnis, sich zu zerstreuen, gebe es aber, schreibt Pascal, "noch einen weiteren geheimen Trieb, der von der Größe unserer ursprünglichen Natur übriggeblieben ist und der sie erkennen lässt, dass das Glück tatsächlich nur in der Ruhe und nicht im Tumult liegt". Wenn der Mensch dieses Glück aber wirklich erreichen wollte, "wäre es notwendig, dass er sich unsterblich macht."

Schwer ist es, Gewohnheiten aufgrund besseren Wissens zu ändern

Das Glück der Ruhe ist in Pascals Denken Gott und den Heiligen vorbehalten. Und ein bisschen vielleicht den Philosophen und großen, zurückgezogenen Geistern. Aber die meisten Menschen betrachtete er als aus der Gnade göttlicher Ruhe herausgefallen. Trotzdem konterkariert ihre Sehnsucht danach den Drang nach Ablenkungen: "Und aus diesen beiden entgegengesetzten Trieben bildet sich in ihnen ein verworrener Vorsatz, der sich vor ihren Blicken am Grunde ihrer Seele verbirgt und der sie bewegt, nach Ruhe durch Geschäftigkeit zu streben und sich stets vorzustellen, dass sie die Zufriedenheit, die sie nicht im mindesten haben, erreichen werden, wenn sie erst einige klar erkennbare Schwierigkeiten überwunden haben und sich dadurch das Tor zur Ruhe öffnen können."

Jedenfalls versteht man mit Pascal, in welch besonders widersprüchlicher Lage wir gerade sind: In ein Stillhalten gezwungen, das uns als Menschen nicht liegt, dürfen wir kaum die Schwierigkeiten angehen, die sich vor uns auftürmen, und entfernen uns damit in aller physischen Ruhe noch weiter als sonst von der existenziellen Ruhe, die wir uns wünschen.

Am allerwenigsten an seine Kreatürlichkeit, seine Sterblichkeit denken lassen, sollte man übrigens Pascal zufolge den Souverän - zu seiner Zeit: den König. Der müsse immer von Leuten umgeben sein, die ihn mit Aufgaben und Vergnügungen versorgen, "damit keine Leere entsteht".

Pascal schrieb in der Epoche absolutistischer Herrscher, und wenn in seinen "Gedanken" von Zerstreuung die Rede ist, muss man an den Pomp des französischen Hofes von Ludwig XIV. denken. Keiner hat so prächtige Feste gefeiert, so üppige Gastmahle veranstaltet wie der Sonnenkönig, kaum einer wusste sich zu zerstreuen wie er. Pascal war den größten Teil seines Lebens sein Untertan.

Heute ist das Volk, sind wir alle der Souverän und die Unterhaltungsindustrie hat die Zerstreuung demokratisiert. Den Fernseher oder das Radio anzuschalten, Bilder auf Instagram zu bewundern oder die aktuellsten Tweets zu lesen, kostet kaum Mühe. Auch wenn sich die Wahl der Zerstreuung je nach Milieu unterscheidet, sind die Zugangsmöglichkeiten für alle da. Und gerade jetzt ist es entscheidend, dass dank Rundfunk und smarter Geräte niemand aus dem Haus gehen muss, um sich zu zerstreuen. Die physische Distanz wird von den Netzen der sozialen Medien aufgefangen. Ungestört von direkter Zwischenmenschlichkeit laufen deren Kanäle heiß. Aufmunternde Botschaften, künstlerische Angebote lenken von der Arbeit im Home-Office ab, vor allem aber der Sog des Nachrichtenkonsums - das Begehren nach "Sofortinformiertheit", wie Sascha Lobo das nennt.

Wobei die Nachrichten über Covid-19 - auch das gehört zur Widersprüchlichkeit der Situation - einen ausgerechnet auf das stoßen, wovon nach Pascal die Zerstreuung ablenkt: Auf die Sterblichkeit und die Unwissenheit des Menschen. Das mediale Spektakel dreht sich um eine so existenzielle Angelegenheit, wie kaum einer es je erlebt hat. Dabei wachsen täglich die Erwartungen an die Regierungen, die sich anders als im Absolutismus legitimieren müssen, indem sie die Gefahren der Existenz erkennen und managen. So versicherte der französische Staatspräsident in seiner Rede an die Nation, sein Team und er würden sich von nichts und niemandem vom Kampf gegen das Virus "ablenken" lassen. Gut möglich, dass auch der viel lesende Emmanuel Macron hier Pascal im Ohr hatte.

Zwischen Pascal und uns liegen knapp vierhundert Jahre, die Lebenswelten haben kaum Gemeinsamkeiten. Dennoch ist es gut, sich in diesen Tagen an seine "Pensées" zu erinnern. Anstatt alle fünf Minuten neue Nachrichten zu verfolgen, mag man vielleicht das eine oder andere von Pascals Fragmenten lesen. Viele sind nicht länger als ein Tweet. Ihre Lektüre lässt genug Zeit, um das Home-Office in Gang zu halten und sich zu informieren. Pascal selbst schrieb, seine Gedanken seien "auf der Grundlage der gewöhnlichen Gespräche des Lebens" entstanden. Sie sollen helfen, sich im Leben zu orientieren. Dazu gehört auch ein Ausnahmezustand, wie jetzt gerade.

So spricht Pascal zum Beispiel davon, wie schwer es ist, gegen Gewohnheiten zu handeln und sie aufgrund besseren Wissens zu ändern. Diese Erfahrung können wir teilen: Die meisten haben sich von den Experten überzeugen lassen, dass zu Hause zu bleiben zur Zeit am klügsten ist. Dennoch ziehen uns unsere Gewohnheiten nach draußen und zu unseren Freunden.

Pascal rät in dieser Situation, unseren Körper an die neue Situation zu gewöhnen und ihm nicht mehr zu erlauben, "sich zum Gegenteil hinzuneigen". Das gelingt möglicherweise, indem wir Bücher lesen. Bei aller Sorge können uns Pascals "Pensées" zu der Ruhe bringen, die der Ernst der Lage fordert. Sie sind eine Ablenkung, die nicht gedankenlos macht.

© SZ vom 26.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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