Eine eigentümliche Zwischenwelt ist die Wohnung. Sie ist keineswegs nur die feste Burg der Innerlichkeit, sie ist eine Schnittstelle zwischen Privatsphäre und Gesellschaft. Zu ihrem Normalzustand gehört, dass man sie verlassen, aber auch, dass man in ihr nach Belieben Besuche empfangen kann. Darum steht sie in Spannung zur erzwungenen Abgeschiedenheit, darum war für Xavier de Maistre (1763-1852) der 42-tägige Hausarrest, in dem er 1794 wegen eines Duells leben musste, eine Strafe. Man entzog ihm einen Teil seiner gesellschaftlichen Existenz.
Man sollte meinen, aus dieser erzwungenen Muße sei sein Büchlein "Reise um mein Zimmer" hervorgegangen. Es erschien 1795 vorgeblich in Turin, wo er lebte, in Wahrheit aber in Lausanne. Aber warum beteuert der Ich-Erzähler er habe den Plan zu dieser Reise schon lange vor Antritt des Arrests gefasst? Ein erfahrener oder gar berühmter Schriftsteller war er nicht. Abenteuern war er nicht abgeneigt. Mit dem Ballon der Brüder Montgolfier war er gefahren, als junger Mann war er in die Armee des Königreichs Piemont-Sardinien eingetreten, 1792 hatte er den Dienst quittiert, als die französischen Revolutionstruppen Savoyen besetzt hatten. Vielleicht wollte er sich in die Literatur stürzen wie in ein Abenteuer.
Jedenfalls ist die Idee eine von der Art, wie sie aus der Konversation in Salons hervorgingen. Wollen wir wetten, dass ich mit einer "Voyage autour de ma chambre" den grassierenden Weltreisen, den "Voyages autour du Monde" à la Bougainville und James Cook erfolgreich Konkurrenz machen kann? Oder sein Bruder, der Philosoph Joseph de Maistre, der das Manuskript zum Druck brachte, Gegner der Französischen Revolution wie er selbst und Verfasser einer Abhandlung über das reaktionäre Denken, hatte ihn ermuntert: Lass die Revolution Europa erobern, wir sind die Eroberer der Innenwelt!
Gute Dienste leistet der Einfall, sich eine Reisegesellschaft zu erfinden
Wie dem auch sei, Xavier de Maistre muss genügend Reiseberichte in sich aufgenommen haben, um ihre Ingredienzien auf seiner Zimmerreise zur Geltung zu bringen. Der erste Einfall, der ihm gute Dienste leistet, ist die Erfindung einer Reisegesellschaft. Dazu zerlegt er sich selbst in zwei Existenzen, die wie ein Komiker-Duo agieren und in der klassischen Dualität von Körper und Seele nicht aufgehen. Zwar ähnelt die Seele ihren Verwandten in der zeitgenössischen Literatur und Philosophie, aber der Körper hat sich in ein sehr eigenwilliges Wesen verwandelt, das oft andere Wege geht als die Seele meint, etwa wenn es um die Aufenthaltsdauer des Schürhakens im Kaminfeuer geht. Zur Reisegesellschaft gehören zudem die Hündin Rosine und der Diener Joanettis.
Die gesamte Reisegesellschaft ist aus Abschweifungen geboren, und die gehören zu diesem Reisetypus, bei dem sich wie bei Laurence Sterne die Schreibbewegung und die Reisebewegung ineinander spiegeln. Erst zu Beginn des zwanzigsten Kapitels wird der Schreibtisch zum Etappenziel, mit seinen Schubladen, in denen Briefe und andere Dokumente verwahrt sind, und mit ihm die Bibliothek, aber lange zuvor schon treibt der Dialog mit Büchern die Reise voran. Etwa, wenn es um die Erkundung der Wände des Zimmers geht. Sie sind, weil auch in einer Zimmerreise der Besuch in einer Gemäldegalerie nicht fehlen darf, mit Stichen und Gemälden ausgestattet. Einer der Stiche zeigt den unglücklichen Ugolino, der in Dantes "Inferno" mit seinen Söhnen den Hungertod im Kerker stirbt. Gegenüber dieser dunklen Szene ist der Zimmerreisende eine vergleichsweise helle Gestalt. Er hat sich auch durchaus vorgesetzt, dem Publikum nur die lachende Seite seiner Seele zu zeigen, seine Lektüre hat aber einen gewissen Hang zum Unglück Anderer. Er ist, zum Beispiel, ein Leser von Goethes "Werther" und auf Seiten des Helden.
Was würde der Leser bei einem Besuch des Arretierten auf dem Kupferstich sehen? "Er würde darauf die unglückliche Lotte sehen, wie sie langsam und mit zitternder Hand die Pistolen von Albert abwischt. - Dunkle Vorahnungen und alle Ängste einer Liebe ohne Hoffnung und ohne Trost spiegeln sich auf ihrem Gesicht; während sich Albert, ungerührt umgeben von Aktenbündeln und alten Papieren aller Art, kühl umwendet, um seinem Freund eine gute Reise zu wünschen. Wie viele Male war ich nicht schon versucht, das Glas zu zerbrechen, das den Stich bedeckt, um diesen Albert von seinem Tisch zu zerren, um ihn in Stücke zu reißen, ihn mit Füßen zu treten." So spiegelt sich die Reise in den Tod in der Zimmerreise, und einmal stürzt der Reisende mit seinem Sessel um, damit auch der Postkutschenunfall seinen Auftritt hat, aber der Ton bleibt stets der Salonunterhaltung nah.
"Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!", vertraut Werther seinem Freund Wilhelm an. Der Zimmerreisende aber durchquer gerade nicht sein Ich, sondern sein Interieur. Stets sind die Erinnerungen, die in seinen Reisebericht einfließen, an die Dinge, an das Mobiliar gebunden, etwa an die vertrocknete Blume aus dem vergangenen Karneval.
Im Arrest neigen die Dinge dazu, sich in Andenken zu verwandeln. Das Bett setzt nicht nur Erinnerungen an amouröse Abenteuer frei, die stellen sich eher beim Abwischen des Porträts der Geliebten ein. Das Bett hält ganz andere Versuchungen bereit, etwa die, beim Eintreten des Dieners am Morgen den Halbschlaf so lange wie möglich zu genießen oder sich der schweifenden Kontemplation zu ergeben.
Was aber wird aus den stärksten Reizen, die eine "Voyage autour du Monde" bereithält, gibt es das überhaupt, Entdeckungen im vertrauten Nahbereich? Oh ja, sagt Xavier de Maistre. Die Arreststrafe begünstigt einen neuen Blick auf das Vertraute, eine der wichtigsten Energiequellen der modernen Literatur. Wie die Tische, der Schreibtisch, der Sessel gehört der Spiegel zum Interieur. Er wird in der Zimmerreise nicht zum Anlass für ein Selbstporträt, sondern für einen fein geschliffenen Essay über den Spiegel.