Wer hat sich im Internet nicht schon verloren. Der Hasenbau-Effekt der Portale, die einen über Stunden in immer neue Windungen und Verästelungen ziehen, hat etwas unwiderstehliches. Wer diesen Effekt jenseits der Bildschirme sucht, der findet ihn am schnellsten im Bücherregal. Vor allem Fotobände können diesen Sog entwickel, der einen in fremde Welten katapultiert. Weil sie auf einem Effekt basieren, der einzigartig ist.
Es gibt viele Beispiele, wie das gelingt. Robert Mapplethorpes "Flowers" (Schirmer Mosel, München, Neuauflage 2019. 140 Seiten, 29,80 Euro) eignet sich da gerade besonders gut, weil der New Yorker Radikalerotiker und Rockstar der künstlerischen Fotografie in den Achtzigerjahren seinen Blick auf Blumen so eng fokussierte, dass er es schaffte, seine gesamte fotografische Vision auf einen Blütenkelch zu reduzieren.
Mag sein, dass ihm die Botanik irgendwann einmal dafür dankbar ist, dass er so wunderbare Allegorien der menschlichen Fortpflanzungsreize in der Pflanzenwelt fand. Blättert man sich durch das Buch verliert man sich immer tiefer in diesem Blick auf das scheinbar Banale.
Mapplethorpes Blumen funktionieren in diesen Tagen deswegen so gut weil sie eine Flucht nach Innen erlauben. Sein Gegenstand findet sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf der eigenen Fensterbank oder dem Tisch. Sein Blick aber öffnet eine Gedankenwelt, wie es früher einmal die Lyrik vermochte, als eine Zeile noch in vielen Emotionen auslösen konnte, ohne unüberwindliche Reizschwellen zu überwinden. Die Fotografie hat es da leichter, weil sie selbst in den Bilderfluten der Gegenwart noch Kraft entwickeln kann.
Wenn sich der Blick auf den Moment verengt, dann geht es in der Fotografie um jenen Kern eines jeden Bildes, in dem ein Stückchen Ewigkeit steckt. "Il n'y a rien dans ce monde qui n'ait un moment decisif", schrieb Henri Cartier-Bresson 1952 in seinem Buch "Images à la sauvette". Es gibt nichts auf der Welt, in dem nicht ein entscheidender Moment steckt.
Cartier-Bressons " moment decisif" wurde in der Nachkriegsfotografie zum Maß aller Dinge. Auf der Kunst diesen Moment zu erfassen beruht die Wirkung von Fotobüchern. Weil sie gleich mehrere entscheidende Momente in einen Rhythmus bringen, der die Visionen der Fotografinnen und Fotografen lesbar macht.
Oft waren es sie selbst, die dieses "sequencing" vornahmen, hin und wieder ihre Verleger oder Kuratoren. Dieser Prozess kann Jahre dauern, oft länger noch, als die Arbeit an den Bildern selbst. Je näher ihnen das Thema ist, desto schwerer machen sie sich die Arbeit oft. Der französische Großmeister der Fotoreportage Gilles Peress hatte in seinem Loft an der New Yorker Bowery über Jahre hinweg immer neue Reihungen seiner Bilder aus dem irischen Bürgerkrieg, wohl wissend, dass jede Veränderung der Reihenfolge die Vision verändert, die in seinen Bildern steckt. Man sieht so etwas nicht sofort, wenn man dann zum Beispiel sein Buch "Power in the Blood" betrachtete. Man spürt es aber, ähnlich wie bei einem Stück Musik, das man nicht sofort analysieren kann.
Die Beispiele der fremden Welten, die man sich mit Fotobüchern erobern kann, sind endlos. Das Amerika des Schweizers Robert Frank ("The Americans", Steidl, Göttingen, 2008. 180 Seiten 38 Euro), die ukrainische Technoszene des deutschen Tobias Zielony ("Maskirovka", Mousse, 2018. 106 Seiten, 25 Euro), Candida Höfers Kunst, Büchereien wie Tempel zu inszenieren ("Bibliotheken", Schirmer Mosel, München, 2019. 272 Seiten, 49,90 Euro) oder Herlinde Koelbls Topografie der Politikergesichter ("Spuren der Macht", Knesebeck, 2010. 408 Seiten, 39,95 Euro) sind Klassiker solcher Versenkungsbücher.
Doch es sind vor allem die Blicke auf das Gewöhnliche wie Mapplethorpes Blumenbilder, wie Martin Parrs Kleinbürgerwelten oder William Egglestons vermeintlich wahlloser Blick in die Nähe, welche die Enge eines Alltags zu einem großen Moment adeln. Schnell steht da der Vorwurf der Romantisierung des Banalen im Raum, des Kitsches, selbst wenn er mit dem geschulten Blick von Eggleston oder dem schwarzen Humors Parrs gebrochen wird. Sicher ist es mindestens genauso schwierig, einen historischen Moment zu bannen. Doch den entscheidenden Moment zu finden, wenn das Sonnenlicht durchs Fenster auf das Blütenblatt fällt, ist nichts weniger als große Kunst.