Süddeutsche Zeitung

Über Lebenskunst:Demut und Konzentration

In Zeiten der Enge führt der "Kindler" durch die Weite der Weltliteratur. Man schlage ihn an beliebiger Stelle auf und erfreue sich am Kondensat.

Von Catrin Lorch

Welches Buch bietet Trost, welcher Film beruhigt die Nerven, welches Kunstwerk weitet den Blick? Empfehlungen des Feuilletons für beispiellose Zeiten.

Wer abtauchen möchte aus der Gegenwart, für den ist "Kindlers Neues Literatur Lexikon" ein Ausweg. Allerdings: Man muss den "Kindler" zu gebrauchen wissen. Denn das Nachschlagewerk, insgesamt 21 Bände, nehmen mehr als einen Meter Raum im Regal ein. "Der Kindler" ist eine Autorität, seit Helmut Kindler in den Sechzigerjahren die ersten sieben Bände dieses umfassendsten deutschen Lexikons zur Weltliteratur herausgab. Und natürlich hat man sich im Studium an diesem düsteren Brocken gestoßen, der einen niemals abzuarbeitenden Kanon repräsentiert. Die zweite Auflage listet knapp zwanzigtausend Werke von mehr als neuntausend Autoren auf, die seit dem dritten Jahrtausend vor Beginn der Zeitrechnung entstanden.

Ein so wuchtig und auch noch schwarz eingebundenes Werk schreckt erst einmal ab. Schon weil man ohnehin jedem Kanon misstraut. Und sind nicht viele der Einträge zu Romanen, die man liebt oder zu kennen glaubt, irre formuliert? In der Zusammenfassung zu Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" wird angemerkt, dass "ein Lernprozess weder bei Alice noch bei den merkwürdigen Wesen festzustellen ist", denen sie begegnet. Aha. Doch wird man irgendwann demütig - vor so vielen Seiten Literaturkonzentrat. Und Demut und Konzentration sind Übungen, die im von Corona bestimmten Alltag helfen.

Die Reise durch die Weltliteratur beginnt man am besten so, wie viele ihre imaginären Aufbrüche vor einem sich drehenden Globus antreten, den man mit dem Finger stoppt. Man zieht also irgendeinen Band heraus und schlägt ihn an zufälliger Stelle auf. Vielleicht bei Sa'adja Gaon, einem im Jahr 882 in Oberägypten geborenen Religionsphilosophen. Wer allerdings beispielsweise in Band 9 (der von Aron Abraham Kabak bis Armand Lanoux reicht) bei Franz Kafka landet oder Wolfgang Koeppen, darf den Sprung ins Kaninchenloch wiederholen - denn es geht allein darum, in die Tiefen irgendeines unbekannten Romans zu stürzen. In die "Todesklänge" vielleicht, einen Novellenband von Vjekkoslav Kaleb, der das Leben von Karsbauern in der dalmatinischen Zgora schildert. Das in Zagreb erschienene Buch des 1905 in Tijesno geborenen Kaleb wurde allerdings nie aus dessen spröden Kroatisch übersetzt. Von dessen "doppelbödigem Realismus" und der "düsteren und kalten Farbskala faszinierender Naturbeschreibungen" erfährt man einzig durch den "Kindler".

Viele der Bücher sind gar nicht ins Deutsche übersetzt - wie erleichternd das doch ist!

Ein paar Seiten weiter stößt man genauso zufällig auf "Drei Istanbuls". Die Inhaltsangabe lobt vor allem die Präzision dieses Werks, das einer sozialkritischen Studie gleichkomme, obwohl es von einem Lyriker, dem 1885 in Istanbul geborenen Mithat Cemal Kunstay, verfasst wurde. Die Erzählung reicht vom Russisch-Türkischen Krieg bis zur Ausrufung der türkischen Republik im Jahr 1922 und folgt faszinierenderweise einem gleichbleibenden Personentableau (vom Jungtürken Süleymun bis zur Tochter des Finanzministers). Eine der Hauptfiguren lernt man als Achtjährigen kennen, Mehmed Adnan wird am Ende als arbeitsloser Journalist seine todkranke Mutter durchbringen, indem er reichen Leuten Privatunterricht erteilt. Auch dieses Werk wurde allerdings nie aus dem Türkischen ins Deutsche übertragen.

Doch ausgerechnet das ist der besondere Reiz des "Kindlers" in diesen Tagen des Lockdowns. Denn natürlich will man sich nicht in ein paar Minuten zwei, drei Romane der Weltliteratur einverleiben, als hochtouriges "Reader's Digest"-Erlebnis. Im Gegenteil, geht es doch tatsächlich um Konzentration und Demut, darum, auszuhalten, dass manches unerreichbar bleibt. Denn auf die schönen, präzisen Zusammenfassungen folgen unweigerlich die knappen Angaben zu Ausgaben, Übersetzungen und weiterführender Literatur. Und die enden bei den meisten Einträgen eben damit, dass die Bücher - verfasst auf Türkisch, Kroatisch oder Arabisch - nicht übersetzt wurden. Die Grenzen der Sprache sind genauso wenig passierbar, wie die, die jetzt zwischen Ländern geschlossen wurden. Während die Welt einem also gerade kleiner und enger vorkommt, führt der "Kindler", dieses eilige, weiße Kaninchen, dem Sprach-Unkundigen vor, dass die Wunderländer der Literatur weit sind und genauso unzugänglich. Es mag paradox klingen - doch wirkt das zutiefst erleichternd.

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SZ vom 17.04.2020
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