"Call Me If You Get Lost" von Tyler, The Creator:Großer Junge

"Call Me If You Get Lost" von Tyler, The Creator: Tyler, The Creator verabschiedet sich von der Dauerprovokation.

Tyler, The Creator verabschiedet sich von der Dauerprovokation.

(Foto: Luis "Panch" Perez)

Auf seinem neuen Album lässt der Rapper Tyler, The Creator die Hip-Hop-Klischees hinter sich.

Von Joachim Hentschel

Von all den schlimmen Phrasen, die der neue, schülerzeitungsnahe Debatten-Journalismus der Jugend-Netzportale auf der schwarzen Liste des Unsagbaren platziert hat, zum Beispiel "Hallo?! Geht's eigentlich noch?" oder "Können wir bitte endlich mal aufhören, dies oder das zu tun?", ist das hier die schaurigste: "Wir müssen reden!" Aber jetzt brauchen wir sie, ausnahmsweise. Tyler, wir müssen reden. Setz dich, nimm dir 'nen Keks. Und erzähl mal.

Gemeint ist Tyler, The Creator, seit gut zehn Jahren einer der buntesten, kontroversesten und kunstsouveränsten Vögel der zeitgenössischen Rap-Musik. Eigentlich Tyler Okonma, 30, der als Skater und Querulant in einer der besseren Gegenden rund um Los Angeles aufwuchs. Der mit 18 rappte, dass er auf jeden Fall einen Grammy-Award haben wolle, ihn mit 28 dann wirklich gewann. Und der nun wieder ein ganz außergewöhnliches Stück veröffentlicht hat. Einen über acht Minuten langen Track namens "Wilshire", in dem er so plaudernd und emotional unvermittelt eine Geschichte aus seinem Leben zu erzählen scheint, wie man es im Hip-Hop heute nur sehr, sehr selten hört.

Dazu muss man sagen, dass Tyler ansonsten ein Großmeister der Verkleidungen und verbalen Sturmtiefs ist. Auch auf dem Album, auf dem das Stück enthalten ist und das Anfang Juli auf Platz eins der US-Charts steht. Es heißt "Call Me If You Get Lost", ist zusammen mit den dazugehörigen Videos eine wahre Blendgranate an modischen und musikalischen Stilbildern, Formatideen, Wortspielen, Kreuz-und-Quer-Referenzen. Am Ende kommt man trotzdem immer wieder auf den besagten Song zurück. Und nicht nur, weil er in der Tat am Ende des Albums steht.

Die Basis von "Wilshire" ist ein Schlagzeug-Groove, wie er vor allem in den Neunzigerjahren beliebt war, darüber ein warmblütig pulsierendes E-Piano, das aus einer Siebziger-Aufnahme des finnischen Jazzrockers Pekka Pohjola stammt. Und dann erzählt Tyler, The Creator, bekannt als Apokalypse-Kasper und Motorsägen-Hänschenklein, was ihm widerfahren ist, mit tiefergelegten, entspannten Stimmbändern. Berichtet, wie er die Partnerin seines guten Freundes kennenlernte. Wie sie sich verliebten, näherkamen, aber der Interessenkonflikt keinen Betrug zuließ. Verbotene Liebe, tausendmal berührt, es ist eine Soap Opera, die Tyler hier ausbreitet, empathisch, selbstzweifelnd. Fast wie die Malcolm-X-bärtigen Storyteller aus dem alten New York, nur eben rein privatpolitisch.

2015 wurde Tyler die Einreise nach Großbritannien verweigert. Für vier Jahre

Natürlich kann es trotzdem sein, dass die Geschichte erstunken und erfunden ist. Es ist nicht die eventuelle Wahrheit, die dieses Rap-Stück so faszinierend macht. Es sind der Ton, die Haltung, die perspektivische Verbindlichkeit.

In einer Zeit, in der wegen diverser Vorfälle gerade beim Thema Hip-Hop heißer denn je gestritten wird, wieviel Werk im Autor steckt und umgekehrt (siehe hier zur aktuellen Debatte in Deutschland), nimmt man ein Tyler-Album ja unweigerlich auch als Diskussionsbeitrag wahr. Vor allem am Anfang seiner Laufbahn, als Leitwolf des wilden Kollektivs Odd Future, waren seine Raps nur so durchzogen von aggressivem Nihilismus, Schwulenspott und Gewaltfantasien gegen Frauen. 2015 wurde Tyler die Einreise nach Großbritannien verweigert, vier Jahre blieb er aus dem wichtigen Hip-Hop-Kernmarkt verbannt. Die damalige Innenministerin Theresa May begründete das allein mit Zeilen aus Songtexten. Ein erstaunlicher, einmaliger Vorgang.

Zum Lämmchen ist der Wolf seither zwar nicht geworden, aber Tyler hat sich längst von den gefährlichen Pennälereien emanzipiert. Hat auf nebulöse Art die eigene Bisexualität angedeutet und vor allem das bis zum Donnerschlag durchgezogen, was auch die mindertalentiertesten Rapper heute gern für sich einklagen, sobald man sie bittet, ihren Schweinkram mal näher zu erklären: Tyler, The Creator schafft es, Hip-Hop als Spiel und wirklich hohe Kunst zu zelebrieren. Als tragfähigen ästhetischen Rahmen, in dem gerade die Qualität des Fiktionalen dann auch wieder aufrichtige Aussagen möglich macht und sogar beglaubigt.

Den Gefallen, sich wenigstens ab und zu eindeutig zu positionieren, tut er uns nicht

Auf "Call Me If You Get Lost" nimmt Tyler nun die Rolle des reisefreudigen Fellmützen-Dandys Tyler Baudelaire an, einer Kreuzung aus Wes-Anderson-Filmfigur und Pepe, dem Paukerschreck. In den Videos erlebt er purzelbunte Urlaubsabenteuer, lackiert die Hip-Hop-Statussymbole zu Insignien eines europäischen Genfer-See-Jet-Sets um. Ob sie nicht mit ihm nach Cannes fliegen und dort obskure Indie-Filme gucken wolle, fragt er in "Wusyaname" höflich die Verehrte, über ein Soul-Sample, das sich wie eine Zuckerwattemaschine dreht. Genießt in "Corso" einen grimmigen Moment der Manie, während Disharmonien aus dunkelsten Wu-Tang-Kammern unter ihm hinwegrumpeln: Ja, er hoffe, dass die Frau beim Sex mit ihrem Mann an ihn denke. Denn er sei der Perfekte.

Und so puzzelt sich langsam zusammen - sicher nicht beim ersten Hören - was dieses Album eigentlich ausmacht. Dass Tyler, The Creator hier die Geschichte der Liebeswirren, die er im "Wilshire" als monologische Nachschrift so trocken und intim erzählt, erst mal als riesiges, irres Prisma inszeniert, mit unzähligen verschiedenen Stilfarben und Stimmen, inneren und externen. Und es dem Publikum gewissermaßen selbst überlässt, gern auch je nach Tagesform, welche Version ihm als die emotional glaubwürdigere erscheint.

Nur einen zeitaktuellen Kommentar kann Tyler, The Creator sich auf "Call Me If You Get Lost" dann doch nicht verkneifen. Mit ausgesprochen geplatztem Kragen erteilt er im spukigen "Manifesto" all denen eine Absage, die von ihm erwarten, dass er sich als schwarzer Künstler zur "Black Lives Matter"-Bewegung bekennen müsse. Am Ende seien das dieselben, im selbstgerechten Vorzeige-Antirassismus eingekuschelten weißen Hörerinnen und Hörer, meint er, die ihn kürzlich noch für die Gewalt in seinen Texten gekreuzigt hätten.

Den Gefallen, sich wenigstens ab und zu eindeutig zu positionieren, tut der große Junge Tyler uns immer noch nicht. Der Kern an Aufrichtigkeit, der in seiner Kunst steckt, ist umso stabiler.

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