Süddeutsche Zeitung

"Twitter" von Nick Bilton:Das Twitter-Prinzip

Nick Biltons Buch über Twitter ist kein Bücherschnellschuss zum Börsengang. Seifenopernhafte Verstrickungen spielen eine Rolle, aber Bilton erzählt auch eine Wirtschaftsgeschichte - und was mit Menschen passiert, wenn sie einem regellosen Markt ausgesetzt sind.

Von Joachim Hentschel

Ja, so stellt man sich als Ahnungsloser das Silicon Valley vor, und genau so scheint es auch wirklich zu sein. Man bekommt einen Anruf oder eine Mail. Verlässt sein Büro, geht hundert Meter die Straße runter. Kommt eine Stunde später zurück und ist Millionär.

So ähnlich begann der Tag im Juni 2007, an dem die damaligen vier Führungskräfte des in San Francisco ansässigen Mikroblogging-Dienstes Twitter ihre Firma ans Großkapital verkaufen wollten. Und es beinahe getan hätten. Gut ein Jahr nach dem Start war das, 250 000 regelmäßige Nutzer hatten sie, was nicht wirklich viel ist. Keine Einkünfte, keinen Gewinn, dringenden Bedarf an Geld - und ein überraschendes Übernahmeangebot des Internetriesen Yahoo.

Den Fußweg zum Hauptquartier der Interessenten kannten sie gut, auf den dortigen Wein-und-Käse-Partys hatten sie sich schon oft gelangweilt. Die Verhandlung mit dem Yahoo-Manager verlief dann insofern seltsam, als er die vier Jungunternehmer unter anderem fragte, was Twitter denn nun eigentlich sei: ein soziales Netzwerk? Ein Dienstleister? Oder etwas ganz anderes? Wieder scheiterten sie selbst daran, einem Fremden ihre Firma zu erklären.

Auf dem Heimweg schwärmten die vier davon, wie schön es wäre, in die hübschen Yahoo-Büros einzuziehen. Der später dazugestoßene Jason Goldman fragte den Gründervater Evan Williams, wie viel Geld bei einer Übernahme eigentlich zu erwarten wäre. 100 Millionen Dollar, sagte Williams. 80 Millionen, ergänzte Mitgründer Jack Dorsey, könne man auch noch akzeptieren. Am Nachmittag rief die andere Verhandlungspartei dann zurück, Minuten später war der mögliche Verkauf vom Tisch. Yahoo bot zwölf Millionen für Twitter.

Absolut kampagnentauglich

Die Anekdote, die der Journalist Nick Bilton in seinem neuen Buch "Twitter" erzählt (Untertitel für unentschlossene Leser: "Eine wahre Geschichte von Geld, Macht, Freundschaft und Verrat"), wirkt sechs Jahre später noch bizarrer. Seit Anfang November ist die Firma an der New Yorker Börse notiert, zum furiosen Start nahm man dort 1,8 Milliarden Dollar ein. Und zwölf Millionen - so viel kostet heute allein das Häuschen, das sich Jack Dorsey in San Franciscos Villenviertel Seacliff gekauft hat. Erklären muss man das Twitter-Prinzip heute keinem mehr (140 Zeichen, eine Art SMS, die weltweit jeder lesen kann, absolut kampagnentauglich). Wer es jetzt noch nicht kapiert hat, traut sich eh nicht mehr zu fragen. 215 Millionen aktive User hat die Plattform im Monatsdurchschnitt, Verluste schreibt das teure Unternehmen noch immer.

Aber das ist kein Widerspruch. Die wirtschaftliche Wertschöpfung, wie sie bei den Internetfirmen im Valley allgemein und bei Twitter im Besonderen vonstatten geht, ist eben eine komplett andere als die im alten Hardware- und Dienstleistungssektor, also in den ökonomischen Zweigen, für die wir leicht nachvollziehbare Ideen und Bilder haben. Weshalb bei allem Digitalen, Datenbasierten ja immer so schnell von Blasen und Hypes gesprochen wird. Und weshalb eine Wirtschaftsgeschichte, wie Autor Bilton sie hier erzählt, auch von unaussprechlichen Dingen handeln muss, von irrationalem Glauben, von Bedürfnissen, zu denen es keinerlei Kundenforschung gibt, und von Wünschen, die plötzlich wahr zu werden scheinen (und dann doch wieder nicht).

Von dem, was mit Menschen passiert, wenn sie nicht nur den Launen der Technologie ausgesetzt sind, sondern den Mechanismen eines neuen, in vieler Hinsicht regellosen Marktes, in dem Kontakte, Reichweite und Reputation gehandelt werden. Über die Verkaufsgespräche, die Yahoo 2007 mit Twitter führte, schreibt er: "Sie ähnelten eher den Verhandlungen mit einer Edelprostituierten als dem Verkauf einer Firma."

Bilton, Wirtschaftskorrespondent der New York Times, hat hier nicht etwa den Bücherschnellschuss zum Börsengang abgeliefert, sondern schon mehr als ein Jahr vor Bekanntgabe mit seinen Recherchen begonnen. Hunderte von Interviewstunden verbracht, sich durch Korrespondenzakten gelesen, vor allem durch die gesamten Twitternachrichten, die die Funktionäre selbst im Netz hinterlassen haben. So kann er die Unternehmensgeschichte wie einen Abenteuerroman erzählen: die Ankunft der Glücksritter im gelobten Valley, allesamt ungelernte, sensible Slacker, die vertrieben wurden von der Unkultur ihrer Redneck-Heimatorte und sich hineinstürzen in die Welt der nächtlichen Hacker-Sessions, Pizza-Bier-Menüs und Technopartys, der hochtrabenden Ideen und Spekulationen, die dem einen helfen, seine Blogplattform für mehrere Millionen zu verhökern. Während der Podcastservice des anderen zu wertlosem Ramsch wird, weil bei Apple zufällig jemand denselben Einfall hat.

Einige dieser Szenarien gehören schon zum zeitgemäßen Erzählstandard, spätestens seit David Fincher in "The Social Network" die Historie von Facebook und seinem Gründer Mark Zuckerberg verfilmt hat. Besonders an Twitter sind jedoch die fast seifenopernhaften Verstrickungen und Kämpfe zwischen den Mitgliedern des Gründerstamms, die nach den ersten Buch-Vorabdrucken in den USA sogar zu echten Headlines wurden: Weil Dorsey auch als Vorstandschef gerne mal um 18 Uhr das Büro verließ, um im Modedesigner-Abendkurs Glockenröcke zu schneidern, manövrierte Mitgründer Williams ihn auf einen Frühstücksdirektorposten. Wofür Dorsey sich kurz darauf grausam revanchierte, als er hinter den Kulissen Williams' Sturz vorantrieb. Und so weiter.

Die Detailstrenge, mit der Autor Bilton auf mehr als 330 Seiten die Geschichte eines gerade mal sieben Jahre alten Unternehmens ausbreitet, kommt einem manchmal komisch und unangemessen vor. Bis man sich daran erinnert, dass diese Twitter-Saga ja weder eine Helden- noch eine Verliererlegende ist, sondern ein kompliziertes Zwischending: eine Studie darüber, wie sich aus einer Menge ungeheuerlicher Kleinkatastrophen und Trial-and-Error-Manöver der derzeit heißeste Internet-Aufsteiger herausschält. Der sogar sein eigenes Phantom der Oper hat, den Mitgründer Noah Glass, der von Dorsey und Williams früh aus der Firma gedrängt wurde und doch immer wieder auftaucht. Wie ein Mahner aus der Vergangenheit, der sich mit aller Kraft dagegenstemmt, aus der großen Twitter-Erzählung entfernt zu werden. Was in einer Branche, die in so hohem Grad vom Wert transzendenter Versprechen lebt, die schlimmste Strafe wäre.

Eine andere Episode in Biltons Buch handelt davon, wie Vertreter des FBI schon 2007 bei Twitter anklopfen und nach einer Kooperation fragen - die Williams und seine standhaften Boys ihnen verweigern. Als kürzlich die Liste der US-Unternehmen öffentlich wurde, die gelegentlich Daten an die NSA weitergegeben hatten, war Twitter (anders als Microsoft, Yahoo, Google, Facebook) nicht darunter. Was die einen mit dem prinzipiell renitenten Charakter der Firma erklärten. Die anderen damit, dass auf der Twitter-Homepage alle sensiblen Nutzerdaten ja ohnehin offen einsehbar seien. Noch so ein typischer Widerspruch.

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Quelle:
SZ vom 19.11.2013/ahem
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