Das Fernsehen als Sammelplatz der Familie - noch immer teilen sehr viele Menschen diese Erfahrung, und bereichert wird diese Erfahrung vor allem durch einige Serien, die über Jahre liefen, die die Gesprächskultur prägten und irgendwann Kult wurden. In einer neuen Reihe beschreibt die SZ diese TV-Klassiker.
Manchmal schleicht sich die Serie nachts in mein Leben. Wenn es richtig finster ist, warte ich im Halbschlummer darauf, dass eine Tür aufgeht, ein gleißender Lichtstrahl ins Dunkel fällt, gebrochen nur von der Silhouette einer Krankenschwester, die mich wecken will. "Dr. Greene!", ruft sie. "Dr. Greene!!!" Dann bin ich mitten drin in der 1994er-Pilotfolge von E.R. - Emergency Room.
Ich taumle von meiner Liege hinüber in die Notaufnahme des Chicago County General und bin umgehend Dr. Mark Greene, jener schlecht bebrillte Arzt mit schütterem Haar, der die ersten E.R.-Staffeln zusammenhielt, dann an Hirntumor erkrankte und aus dem Gesichtsfeld der Zuschauer verschwand.
Mit im Behandlungsraum
Man kann die Fans dieser amerikanischen Serie sehr schön ausfindig machen, wenn man nur hinhört. Fans sagen nie Emergency Room, Fans sagen E.R. Sie sind Verbündete im Kampf gegen außergewöhnliche Krankheiten, alltägliche Schusswunden und skurrile medizinische Verwicklungen.
Sie sind wie ich mit dabei, wenn die Kamera einfängt, wie Rettungssanitäter die Türen aufknallen lassen und mit Wucht eine Trage hineinrollen.
Die Kamera ist über der Trage, ich bin über der Trage. Ich sehe Blut und einen verwirrten Patienten, höre, wie die Sanitäter Namen, Verletzung, Blutdruck und Geisteszustand reportieren. Ich fahre mit in den Behandlungsraum und werde umringt von jenen Ärzten, mit denen mehr als drei Millionen Deutsche fast jeden Dienstag verbringen.
Diese Ärzte reden immer dasselbe, von Urinsticks, Pneumotorax und Sauerstoffsättigung. Ich habe keinen blassen Schimmer, was sie meinen, aber ich weiß, dass das so sein muss in einer Notaufnahme.
"Laden auf 300"
Ich weiß auch, dass es in gefühlten 90 Prozent aller Fälle zur künstlichen Beatmung kommt, damit einer mit einem Intubationsbesteck im Rachen des Verletzten herumstochern und zusätzliche Spannung aufbauen kann. "Ich bin drin", sagt er dann zur Erlösung aller. Danach wird alles besser. Und wenn nicht, kommen die Defibrillatoren zum Einsatz, jene komischen Kellen, aus denen Stromstöße zum müden Herzen fließen.
"Laden auf 300", sagt einer. Und: "Zurück!" Dann hoppelt der Patient ein bisschen wie ein Flummi; wenn es gut läuft, gibt es auf dem Monitor ein gleichmäßiges Piepen. Ich sorge manchmal für Verwunderung, wenn ich am Bügelbrett ein zweites Eisen ergreife, laut "Laden auf 300" rufe und dann mein Hemd hoppeln lasse. Hoppelt es nicht, habe ich für die Patientenakte auch die Reaktion parat: "Zeitpunkt des Todes 20.20 Uhr."
Bei E.R. ist die Kamera immer nah dran an der Action. Viele Schnitte im OP, kaum Schnitte im Film. Wenn man die Serie von Anbeginn verfolgt hat, weiß man, dass E.R. auch im amerikanischen Fernsehen Maßstäbe gesetzt hat. Lange bevor bei 24 das Prinzip der Echtzeit den Takt diktierte, war man auf die Idee gekommen, eine Folge live zu spielen und auszustrahlen, was angesichts der stets ungeheuer zahlreichen Erzählstränge einer logistischen Meisterleistung gleichkommt.
Es gibt immer viel zu erzählen bei E.R. Neu an der Serie war, dass der Zuschauer allen Grund hatte, vieles nicht zu verstehen und so manches Schicksal aus den Augen zu verlieren. Das war pure Absicht - im wahren Leben verstehen Patienten auch selten, was Ärzte sagen, und sie kümmern sich nicht um Schicksale der anderen. In E.R. wird nicht geschwafelt wie in deutschen Klinikserien, wo am OP-Tisch immer ein Arzt dem anderen erklären muss, was ein Schlaganfall ist.
Sonst verstehen das die Zuschauer nicht, sagen ängstliche Redakteure und zerstören Geschichten schon im Ansatz. Bei E.R. haben die Redakteure entweder eine Überdosis Mut gesoffen oder einfach das richtige Gefühl für das rechte Wort zur rechten Zeit.
"Ich bin drin"
Inzwischen freilich bewegt sich E.R. weg von skurrilen Patientenschicksalen, hin zu etwas nervigen Privatproblemen der Ärzte - das lässt gelegentlich mit Wehmut an die Aufbruchsstimmung früher Produktionstage denken. Etwa, als George Clooney noch bei E.R. praktizierte.
Damals kannte diesen Kinderarzt keiner, der reihenweise Herzen brach und einer hübschen Schwester gleich im Pilotfilm das Motiv für einen Suizidversuch bot. Trotzdem konnte diesem Dr. Ross - einem Kumpel von Dr. Greene, also von mir - keiner lange böse sein. Clooney wusste schon damals smart dreinzuschauen. Irgendwann ist er ausgestiegen, arbeitet laut Drehbuch woanders und kehrt wahrscheinlich zurück, wenn die letzte Folge von E.R. gedreht wird.
Es bleibt zu hoffen, dass dies noch dauert. Ich will weiter dienstags mit ausladenden Bewegungen die komplizierte Eingangsmelodie dirigieren und mich nicht darum kümmern, dass mich Umsitzende besorgt mustern. Mir egal. Ich souffliere jedes, aber auch wirklich jedes: "Ich bin drin."