TV-Nachtkritik: Turmspringen:Wie die fliegen!

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Anmut kommt vor dem Aufprall: In der Münchner Olympiaschwimmhalle übten sich prominente Lemminge in der Kunst des stilvollen Untergangs.

Franziska Seng

Das Schwimmoutfit ist das Adamskostüm der Gegenwart. Entledigt aller Statussymbole, ist der Mensch plötzlich auf atavistische Tugenden angewiesen: Mut, Haltung, Reaktionsvermögen.

Kurz vor dem Abflug: Stefan Raab auf dem 10-Meter-Brett. (Foto: Foto: dpa)

Dem Spott preisgegeben ist hingegen der, der sich nur auf die Strahlkraft seiner Fassade verlässt. Wer einmal, aus der Klassengemeinschaft verstoßen, einsam und wütend durch leere Schulgänge streunte, weiß, wie aufmunternd es auf das kindliche Gemüt wirken kann, sich den an der Misere schuldigen Lehrer in Badehosen vorzustellen. (Es soll Leute geben, die diesen Kniff im späteren Berufsleben bei ihren Chefs anwenden.)

Erst vor diesem Hintergrund ist der Mut derjenigen nachzuvollziehen, die dem vierten Aufruf Stefan Raabs gefolgt sind, sich fast nackt, vor laufenden Kameras, wie die Lemminge, von einem Sprungturm zu stürzen. Nun kann man einwenden, dass Lemminge vielleicht etwas dümmlich-naiv sind, ebenso wie Möchtegern-Turmspringer. Weil sie annehmen, dass sich für sie nach dem Sprung neue Lebens- und Wirkungsräume auftäten. Weil sie ja gar nicht wissen, was sie da tun.

Trotzdem hatte deren Drehen, Wenden und Platschen am vergangenen Samstagabend Vorbildcharakter. Denn manche Wettbewerbsteilnehmer zeigten, wie man auch ohne äußere Statussymbole, halbnackt, in Freizeitoutfit und ohne Boden unter den Füßen die Haltung bewahrt. Wie man selbstbewusst wirken kann, auch nachdem man gezwungen war, seine Rolex an Rentner oder andere Sparkassen-Anleger zu verhökern. Dabei konnten sich fünf Prototypen des stilvollen Untergehers herauskristallisieren:

1. Der vorwitzige Papageienfisch:

Vertreter: Doreen Seidel, Magdalena Sierka, Liza Li, Fiona Erdmann

Selbst im total begossenem Zustand verlieren diese Springerinnen kaum an Glamour: Ihr Make-up sitzt wie eine zweite, schillernde Haut. Ihre Plappereien sind albern, ihr Auftreten trotzdem grazil, frech und selbstbewusst: Sie werfen Kusshändchen oder meckern, weil das Wasser zu dunkelblau ist. Da stört es die meisten wenig, dass sie selbst bei Anfängersprüngen patzen, flach wie eine Flunder ins Wasser kommen oder schmerzhaft mit dem Gesicht bremsen.

2. Der stoische Karpfen

Vertreter: Mundstuhl, Elton.

Teilnehmer wie Lars, Ande und Elton sind das Salz in der verchlorten, sterilen Suppe der Samstagabendshows. Ihre mäßig gedrillten Körper lassen darauf schließen, dass miefende Turnhallen, staubige Tartanbahnen und pilzverseuchte Schwimmbäder nicht ihr wahres Element sind. Trotzdem lassen sie sich, wie Elton, nicht durch schmerzhafte Rückenplatscher von ihrem Unterhaltungsauftrag abbringen. Das märtyrerhafte Einspringen für den Zuschauer verleiht ihrem Leiden Sinn, ihrer Präsenz trotz fehlender Eleganz melancholische Größe.

3. Die flinke Forelle

Vertreter: Joey Kelly, Fabian Hambüchen, Norbert Dobeleit, Kai Böcking

Verbissen springen und trainieren sie seit Monaten oder sind, wie etwa Hambüchen, einfach begnadete Quereinsteiger. Sie sind brillante Athleten, zäh, auch gnadenlos in der Fehleranalyse, wie etwa Joe Kelly nach einem missglückten Sprung: "Vielleicht bin ich zu alt?", hinterfragt er kritisch seine Existenz als Faktotum der Stefan-Raab-Mega-Shows. Roboterhaft spulen sie ihre Leistung ab. Das sieht atemberaubend gut aus, wirkt aber im Vergleich zu Typ eins, zwei und fünf ein bisschen langweilig, fast schon zu perfekt.

4. Der scheue Anemonenfisch

Vertreter: Steffen Groth und Wolke Hegenbarth

Sie sehen zwar wie Typ drei ebenfalls sehr sportlich aus, sind jedoch höchst unscheinbar und kommen emotional so selten aus der Reserve, wie Anemonenfische aus ihrem Versteck. Die Fragen des Moderators beantworten sie mit verträumtem Lächeln. Bevor sie nicht im Scheinwerferlicht des Siegestreppchens stehen, hat keiner so recht bemerkt, dass sie überhaupt mitgemacht haben.

5. Der smarte Hecht

Vertreter: Bülent Ceylan, Stefan Raab

Ihre Körperspannung lässt zu wünschen übrig, doch das können sie ausgleichen. Sie sind clever, nicht auf den Kopf gefallen. Ihr Erfolgsrezept ist eine Mischung aus Risikopoker und Charmeoffensive: Sie suchen sich schwere Sprünge aus, versemmeln die ersten Durchgänge und hoffen auf die Milde der Wettkampfrichter. Die Erfolgsaussichten bei dieser Methode sind etwa 50 zu 50: Bülent kam ins Einzelfinale, Raab flog raus.

Trotzdem würden Teilnehmer wie sie aufgrund ihrer Ausstrahlung auch als Letztplatzierte als moralische Sieger nach Hause gehen. Wenn zum Beispiel Stefan Raab wie ein Zen-Buddha seinen blassen Bauchansatz tätschelt, dann signalisiert er: "Ich hab mehr Spaß, als alle zusammen, bin mit meinem Körper, meinem Sender und dem Universum im Reinen. Joey Kelly kann mich mal!"

Fazit

Der unscheinbare Soap-Darsteller Steffen Groth siegte im Einzelfinale, ebenso im Synchronspringen mit Wolke Hegenbarth. Nicht nur ehrgeizige, perfekt modellierte Körper erringen Anmut, Würde und Goldmedaillen. Was ebenso zählt sind natürliche Grazie und die bescheidene Fähigkeit, auch im Moment des größten Schmerzes nur kleine Wellen zu schlagen.

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