TV-Nachtkritik: "Die Wahrheit...":Das Experiment der Peinlichkeit

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"Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit" ist keine Spielshow - es ist die moderne Gretchenfrage: Wie viel muss man bezahlen, damit ein Mensch sich selbst und seine Freunde bloßstellt?

Jürgen Schmieder

Es ist nicht zwingend eine schlimme Sache, sich im Fernsehen zu blamieren. Wer bei "Wer wird Millionär?" an der 50-Euro-Frage scheitert, kann es auf die schwachen Nerven schieben.

Christoph Bauer moderiert die Show "Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit" auf RTL 2 (Foto: Screenshot: sueddeutsche.de)

Eine derbe Bohlen-Abfuhr nach einer das Trommelfell beleidigenden Performance bei "Deutschland sucht den Superstar" kann mit einer verlorenen Wette erklärt werden. Kann passieren, kein Problem. Eine weitere Form der Blamage bietet eine neue Sendung auf RTL 2: "Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit".

Es gab in den neunziger Jahren die moralische Gretchenfrage "Würden Sie für eine Million Dollar mit einem Fremden schlafen?" Die Show ist die Potenzierung der Geld-oder-Stolz-Frage. Der Kandidat muss entscheiden, wie viele delikate Fragen er öffentlich beantwortet für einen maximalen Ertrag von 25.000 Euro. Er ist dabei an einen Lügendetektor angeschlossen.

Die Fragen sind so intim, dass man sie nicht einmal seinem Ehepartner nach zehn gemeinsamen Jahren stellen würde. Hier werden sie einem Millionenpublikum präsentiert. Der Lebenspartner hört die Antwort, aber auch Eltern, Nachbarn - und zukünftige Arbeitgeber und Kollegen.

Maximale Blamage - null Euro

Das ist der Reiz, aber auch das Hundsgemeine an dieser Show. So fragte Moderator Christoph Bauer während der ersten Sendung, ob die Kandidatin schon einmal ein großes Geschäft in der Badewanne verrichtet habe. Sie überlegte kurz, antwortete mit "Ja" und durfte sich über die Gewinnsumme von 1000 Euro freuen - die sie später wieder verlor, weil sie sich entgegen ihrer Antwort doch für die schlauste Person in ihrer Familie hielt.

Das muss man sich einmal vor Augen halten: Die Frau verkündet vor Millionen von Zuschauern, dass sie in die Badewanne gemacht hat, ihre Familie für hässlich hält und ein behindertes Kind abtreiben würde, um dann mit null Euro nach Hause zu fahren. Die öffentliche Blamage wurde nicht einmal entlohnt.

Noch drastischer wurde es beim zweiten Kandidaten. Er gab zu, dass er seine Freundin betrügen würde, wenn es nicht herauskommen würde und dass er schon einmal beim Sex mit seiner Freundin an seine Exfrau dachte. Nochmal: Nun weiß ganz Deutschland, dass die Frau eine geistig Betrogene ist. Wieder gab es null Euro.

Kandidatin Nummer drei scheiterte ebenfalls. Sie gab an, ihren aktuellen Freund niemals betrogen zu haben. Eine Lüge. Dem Freund auf der Couch entglitten die Gesichtszüge. "Gibt's nicht", sagte sie. Gibt's doch. Was es nicht gab: einen Cent für die Kandidatin.

Für den Zuschauer ist dieses Konzept freilich spannend, weil er aus sicherer Entfernung die Steigerung einer Nachmittags-Talkshow betrachten darf. Es ist eine Mischung aus Voyeurismus, Schadenfreude und purem Entsetzen darüber, was Menschen für ein paar Euro ausplaudern.

Menschliche Versuchskaninchen

Vielleicht darf man die Sendung nicht als Spielshow sehen, in der die Teilnehmer versuchen, mit Talent, Wissen oder eben mangelndem Schamgefühl Geld zu verdienen - denn das tun sie eh nicht. Vier Kandidaten, null Euro Gewinn.

Es ist ein psychologisches Experiment. An menschlichen Versuchskaninchen wird die Frage geklärt: Wie viel Geld muss man einem Menschen bezahlen, damit er sich und seine Familie und Freunde bloßstellt?

1000 Euro für die Aussage, dass der beste Freund blöd ist; 2500 Euro für das Geständnis, sich Sex mit mehreren Männern zu wünschen. Für höhere Beträge muss man schon zugeben, dass man seinen Partner für einen gutaussehenden Millionär verlassen würde und ihm bereits Hörner aufgesetzt hat. Irgendwie möchte man gar nicht wissen, was die 25.000-Euro-Frage ist.

Der Komiker Leslie Nielsen sagte einmal: "Die Wahrheit tut weh. Nicht so sehr, wie wenn man sich auf ein Fahrrad ohne Sattel schwingt, aber sie tut weh." Nach dem Ansehen der Sendung erkennt man, wie recht Nielsen hatte.

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