Süddeutsche Zeitung

TV-Doku über Schabowskis Stammeln:Mauerfall - eine Inszenierung?

"Nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich": Vor 20 Jahren brach nach diesem Stammeln die DDR zusammen. Doch war die Erklärung nur eine Presse-Inszenierung?

Willi Winkler

Als Günter Schabowski, mit sechzig einer der jungen Männer im Politbüro, bei der großen Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz auftritt, pfeifen ihn seine Bürger aus. Schabowski spricht nicht für dieses Land, und dass er sich zerknirscht zeigt, sogar zu Veränderungen bereit, will keiner mehr wissen. Schabowski ist Bezirkssekretär von Berlin (Ost), Herr über den wichtigsten Parteiverband der SED, mächtiger als jeder Bürgermeister. Aber seine Macht geht zu Ende. Die Partei versucht zu retten, was nicht mehr zu retten ist, und bestellt den ehemaligen Chefredakteur des Neuen Deutschland zum "Sekretär des ZK der SED für Informationswesen"; als Pressesprecher soll er dem Volk versichern, dass die Partei alle liebe, und im übrigen die Revolution von unten verhindern.

Das Spiel, das alte Spiel ist aber längst aus. Die DDR bricht vor aller Augen zusammen, und die Medien helfen mit. In Ungarn wird der Eiserne Vorhang nach Österreich zerschnitten. Dass es sich um eine Inszenierung handelt und lange nach einem noch intakten Stück Zaun gesucht werden musste, tut dabei nichts; der unerwartete Wärmestrom der Geschichte hat 1989 beinah alle zu Gläubigen gemacht. Wer nicht bis Ungarn kommt, reist in die benachbarte Tschechoslowakei. In der Prager Botschaft sammeln sich die Flüchtlinge aus der DDR und werden vor der Fernsehkamera befreit. Und dann kommt der 9. November.

Günter Schabowski hat an diesem Tag seinen großen Auftritt. Wieder sind die Kameras dabei, aber diesmal wird er nicht ausgepfiffen. Sein Publikum im Internationalen Presseclub sind gelangweilte Journalisten, die mit mäßigem Interesse verfolgen, wie der Sekretär herunterleiert, was im Zentralkomitee besprochen wurde. Ein Reporter, der genau vor ihm platziert ist, fragt Schabowski nach der angekündigten Neuregelung der Reiseformalitäten. Anderswo wäre es das ödeste Thema der Welt, in der DDR, die fast stündlich weiter zusammenschrumpft, geht es um alles.

Schabowski schaut noch mal in seine Unterlagen, liest mit erstaunlicher Begriffsstutzigkeit vor, dass die "ständige Ausreise" künftig allein mit einem Pass möglich sei und zwar für jeden, und bestätigt fahrig, was gar nicht stimmt, nämlich dass die Regelung bereits gelte: "Das tritt nach meiner Kenntnis . . . ist das sofort, unverzüglich."

Diese Schlamperei ist Geschichte geworden, denn damit ging die Mauer auf. Aber war es so?

In dem Film von Florian Huber und Marc Brasse ("Schabowskis Zettel. Die Nacht als die Mauer fiel") war es so und wieder nicht. Der Film stützt sich auf das 1996 zum ersten Mal erschienene Buch "Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates" des Historikers Hans-Hermann Hertle, der die Geschichte jenes 9. November bis in die neueste Auflage immer noch gründlicher erforscht hat. Bei der Lektüre erfährt man, wie bedrängt die Lage in der DDR bereits war.

Die Führung unter dem Honecker-Nachfolger Egon Krenz stand deshalb in engen Verhandlungen mit der Bundesregierung und wollte sich die Massenausreise von ihr bezahlen lassen. Passformalitäten (nur ein Viertel der DDR-Bürger besaß überhaupt einen) hätten die Reisen in den Westen bis Weihnachten verzögert und den Strom vor allem kanalisiert. Krenz versuchte mit Gorbatschow zu telefonieren, den er nicht erreichte, weil in der Sowjetunion der Jahrestag der Oktoberrevolution gefeiert wurde. Der sowjetische Botschafter war entsetzt über die Vorgänge in Berlin, und Krenz musste sich am nächsten Tag von Gorbatschow ausschimpfen lassen.

Lesen Sie auf Seite 2, warum Zeitzeugen nicht zu trauen ist.

Da man in den öffentlich-rechtlichen Anstalten aber nichts mehr fürchtet als den Zuschauer, der weiterschaltet, wenn ein Gedanke zu ausführlich entwickelt wird, haben sich die Autoren für das Dokudrama und eine Dramatisierung jenes 9. November entschieden. Zeitzeugen sind zwar eindrucksvoll, manchmal sogar ergreifend, aber zu trauen ist ihnen nicht.

Egon Krenz hat immer wieder versucht, sich als Urheber des "Knüllers" nach vorn zu spielen. Schabowski selber hat - je nach Laune, je nach Gesprächspartner - höchst widersprüchliche Versionen dieser Geschichte präsentiert. Mal wusste er, was auf dem Zettel stand, dann wieder nicht. (Der Zettel, das nur nebenbei, war ein vielfach bearbeitetes und am Ende sauber getipptes Blatt Papier.) Doch wie das so ist mit dem ehemaligen Bildungsauftrag: Unvermeidlich vereinfachen sich bei der Dramatisierung alle historischen Grauwerte zu jenem schlichten Schwarzweiß, das den Zuschauer um 21 Uhr nicht überfordert.

So schreitet der historische Tag mit der mechanischen Unaufhaltsamkeit eines Uhrwerks voran, wechselt von ZK-Plenum zur Formulierungssitzung und weiter zur Pressekonferenz. Alles ist aufs Wundersamste rekonstruiert. Was die Requisiten kosteten, wurde dafür bei den Schauspielern gespart. In der bewährten Guido-Knopp-Manier geht es in den Spielszenen so menschlich zu wie in einem Wachsfigurenkabinett, aber vielleicht war die DDR ja wirklich so bleich und dauerübernächtigt.

Es sieht natürlich sehr eindrucksvoll aus, wenn die alte Garde der SED in Wandlitz die Maueröffnung verschläft, oder wenn ehemalige Stasi-Oberste mit zwei Jahrzehnten Verspätung die Welt nicht mehr verstehen und auf eine Bürokratie schimpfen, in der sie damals mitgearbeitet haben und die von einer Stunde auf die andere nicht mehr so repressiv funktioniert wie gewohnt. Noch heute wirkt es unbegreiflich, wie in Sekunden der ganze deutsche Stalinismus implodieren konnte.

Obwohl die Filmemacher die Maueröffnung als 24-Stunden-Krimi inszenieren, gehen sie nicht der Spur nach, die der italienische Journalist Riccardo Ehrman vor einem halben Jahr legte. Wie die historischen Aufnahmen zeigen, ließ sich Ehrman an jenem Abend von Schabowski, der dabei einen anderen Journalisten brüsk überging, aufrufen, damit er die dramaturgisch fällige Frage nach den neuen Reiseregelungen stellen konnte. Ehrman behauptet heute, dass ihn Günter Pötschke, der damalige (und inzwischen verstorbene) Chef der DDR-Nachrichtenagentur ADN, angerufen und aufgefordert habe, an passender Stelle genau diese Frage zu stellen. Handelte es sich also bei Schabowskis wüstem Gestottere am Ende doch um eine Inszenierung? Huber und Brasse interessieren sich komischerweise überhaupt nicht für diese Möglichkeit.

Riccardo Ehrman hat für seine Frage vor einem Jahr das Bundesverdienstkreuz erhalten. Das wiederum ärgert den damaligen Bild-Reporter Peter Brinkmann, der Schabowski mit der Frage bedrängte, ab wann die angekündigte neue Reiseregelung denn gelte. Der Streit zwischen Ehrman und Brinkmann hat mittlerweile sogar die Washington Post erreicht, die auf das naheliegende Wortspiel "Brinkmannship" verfiel. (Mit einem n heißt das "gewagtes Spiel".) Für die Filmemacher ist Brinkmann der Held.

Die Wahrheit liegt ganz woanders und sie war für alle zu sehen. Knapp vier Stunden nach Schabowskis Versprecher eröffnet Hanns Joachim Friedrichs die "Tagesthemen" mit einer glatten Lüge. "Die Tore in der Mauer stehen weit offen." Nichts stand offen, an den Grenzen wurde in bewährter Weise schikanös abgefertigt, aber Friedrichs' einprägsames Bild wurde fast augenblicklich Wirklichkeit. Zu den Hunderten, die an den Übergangsstellen in Berlin darauf warteten, dass die überforderten Grenzer sie endlich durchließen, gesellten sich, durch Friedrichs' Ansage ermutigt, viele tausend weitere, und dieser Druck erst war es, der die Mauer öffnete.

Den Grenzbeamten blieb am Ende nichts anderes übrig, als ihre ehemaligen Untertanen ziehen zu lassen. Durch ihre je eigene Unprofessionalität öffneten Schabowski und Friedrichs am 9. November vor zwanzig Jahren die Mauer. Nie waren Journalisten schlechter, nie besser.

Schabowskis Zettel, ARD, Montag, 2. November, 21 Uhr.

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SZ vom 29.10.2009/iko
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