Turner-Preis:Meins oder deins, was für 'ne blöde Frage

Turner-Preis

Erst Konkurrenten, dann Kollektiv: Tai Shani, Lawrence Abu Hamdan, Helen Cammock und Oscar Murillo (v. l.).

(Foto: dpa)

Solidarität statt Konkurrenz: Den Turner-Preis teilen sich dieses Jahr alle vier nominierten Künstler - eine Geste, die in die Zeit passt.

Von Catrin Lorch

Große Überraschung bei der Verleihung des Turner-Preises: Die vier Künstler, die um die Auszeichnung konkurrierten, werden sie sich auf eigenen Wunsch teilen. Bei der Verleihung am Dienstagabend traten im "Dreamland", einem Vergnügungspark im britischen Margate, Lawrence Abu Hamdan, Helen Cammock, Tai Shani und Oscar Murillo ans Rednerpult und umarmten sich demonstrativ. Sie hatten kurzfristig ein Kollektiv gebildet und die Jury gebeten, sie auch als solches zu behandeln. Die Künstler sagen, sie haben damit ein Zeichen setzen wollen: "In einer Zeit, in der uns bereits so viel trennt und isoliert, möchten wir den Preis gerne als Gelegenheit für ein gemeinschaftliches, pluralistisches und solidarisches Statement zu nutzen - in der Kunst und in der Gesellschaft."

Die Jury teilte mit, sie fühle sich geehrt, diesen Appell zu unterstützen. Deshalb wird das Preisgeld, immerhin 40 000 Pfund, jetzt geteilt, und in der Chronik des Turner-Preises, der als eine der renommiertesten Auszeichnungen der Kunstwelt gilt, stehen unter der Jahreszahl 2019 vier Namen.

Das solidarische Auftreten der bis dahin als Konkurrenten gehandelten Künstler steht für ein verändertes Selbstverständnis. Vor einigen Jahren ging es noch als Gehabe gekränkter Genies durch, wenn Künstler wie Tracey Emin oder Jake und Dinos Chapman - wenn sie leer ausgingen - die Sieger oder die Preisgeber öffentlich schmähten. Doch schon vor drei Jahren hatte Helen Marten ihr Preisgeld mit den anderen Nominierten geteilt. Ihr Vorbild war wohl Theaster Gates, der es im Jahr zuvor mit den 40 000 Pfund so gehalten hatte, die er mit dem Artes-Mundi-Preis erhielt. "Let's split this motherfucker", dröhnte er in seiner landesweit im Fernsehen übertragenen Dankesrede: "Lasst uns das verdammte Ding aufteilen!"

Die Geste passt in ein Jahr, das geprägt ist von Solidarität der Künstler untereinander und ihrem Misstrauen gegenüber Markt, Sponsoren und einem Kanon, der immer noch als zu männlich und zu weiß empfunden wird. Es sind jetzt immer häufiger Künstler, die sich gegen das Establishment durchsetzen. Wie die Amerikanerin Nan Goldin mit ihrem Engagement gegen die Mäzenaten-Familie Sackler, die ihren Reichtum unter anderem mit dem suchterzeugenden Schmerzmittel Oxycontin verdienten. Ihr öffentlicher Protest zwang Museen dazu, die Zusammenarbeit mit der Familie aufzukündigen, und wird weitere Proteste befeuern.

Zudem ist das Museum Turner Contemporary, ein Ableger der Tate Gallery an der Strandpromenade des heruntergekommenen Badeortes Margate, auch weit genug von der Kunstmetropole London entfernt, um die institutionalisierte Konkurrenz als unzeitgemäß zu empfinden. Viele Einwohner der Kleinstadt fühlten sich tatsächlich den Pappmaché-Puppen des Nominierten Oscar Murillo solidarisch verbunden, als diese in einer Prozession der Hoffnungslosen und Abgehängten in Rollstühlen über den Strand geschoben wurden. An der Peripherie änderte sich vielleicht auch die Perspektive der Jury.

Hinzu kommt: Alle vier Arbeiten, die in der Ausstellung präsentiert werden, sind politisch kontrovers. Lawrence Abu Hamdan ist bekannt für seine Audio-Recherchen, sein Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit dem Kollektiv Forensic Architecture und mit Amnesty International; es ist eine Recherche zu Fragen der Zeugenschaft in syrischen Gefängnissen wie Saydanya. Helen Cammock hat sich mit der Geschichte der Frauen im nordirischen Bürgerkrieg beschäftigt. Tai Shan entwarf ein feministisches Utopia in Pink. Und Oscar Murillo erinnerte mit seinen "Arbeitskräften", lebensgroßen Figuren, die er schlaff auf Kirchenbänke setzte, an die Migration von Briten in historischen Krisenzeiten. Die Juroren hätten also vor der Aufgabe gestanden, nicht nur die Ästhetik zu würdigen, sondern vier explizit politische Bezugsfelder gegeneinander auszuspielen. Feminismus gegen Folter, Nordirland gegen Syrien.

Eine politisch wache Kunst erscheint nicht länger als Alternative, sondern als einzige Form von künstlerischer Arbeit, die in der Gegenwart überhaupt von Relevanz sein kann. Das ist in Margate spürbarer als im internationalen, funkelnden London. In Großbritannien, das nach dem jahrelangen Brexit-Streit zutiefst gespalten ist, wird in zwei Wochen gewählt. Zudem gibt es in der Kunstszene zunehmend Unbehagen angesichts eines immer stärker globalisierten Wertesystems, das die neoliberalen Strukturen der Warenwirtschaft spiegelt. Das System der Kunstpreise, von den Auszeichnungen für Studenten, die in Akademien vergeben werden, bis zum Goldenen Löwen und eben dem Turner-Preis, entspringt derselben Mentalität.

Diese Kunst, die geprägt ist von Appellen an Humanität, Recherchen zu politischen Skandalen und einem Bemühen um Diversität, entfaltet sich in einem Umfeld, das so konkurrenzsüchtig ist, als würden die Spielregeln der Wall Street, der Champions League und der Académie française gleichzeitig gelten. Allerdings blieben die so harmonisch auf der Bühne versammelten vier Künstler durchaus streitlustig. Tai Shani trug an dem Abend eine Halskette, auf der knapp stand: "Tories raus!"

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