Turner-Preis:Aus dem Fenster

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Die Jury hat in Lubaina Himid die richtige Wahl getroffen. (Foto: Danny Lawson/AP)

Lubaina Himid erhält den diesjährigen Turner-Preis. Sie gilt als der Inbegriff jener integrativen Kraft, auf die das Brexit-geplagte Britannien lange zu Recht stolz war.

Von Alexander Menden

Es wirkte wie ausgleichende Gerechtigkeit, dass der diesjährige Turner-Preis, der politischste und interessanteste seit Jahren, ausgerechnet in Hull stattfand. Die Hafenstadt in Yorkshire, die sich beim Referendum zu rund 68 Prozent für den EU-Ausstieg entschieden hatte, bot als "Britische Kulturhauptstadt 2017" einer Gruppe von Künstlern eine Bühne, deren Arbeiten sämtlich für das Gegenteil jener Abkapselung und Kleinkariertheit stehen, die der Brexit bedeutet.

Die großformatigen Arbeiten, in denen der Maler Hurvin Anderson seine jamaikanischen Wurzeln thematisiert; Andrea Büttners von Simone Weil inspirierte Erforschung menschlicher Entwurzelung; Rosalind Nashashibis semidokumentarische Videoarbeit über den Gazastreifen - sie alle blicken in konstruktivem Geist auf kulturelle Unterschiede und Konflikte.

Dass letztlich ausgerechnet Lubaina Himid die bedeutendste britische Auszeichnung für zeitgenössische Kunst gewonnen hat - und sie damit zugleich die erste siegreiche schwarze Frau und mit 63 Jahren die älteste Preisträgerin in der Turner-Geschichte ist -, unterstreicht den Gegensatz zum nostalgisch-reaktionären Brexit-Impuls besonders deutlich.

In Sansibar geboren und im englischen Preston arbeitend, ist Lubaina Himid geradezu der Inbegriff jener integrativen Kraft, auf die Britannien lange zu Recht stolz war. Wie um das zu unterstreichen, überreichte DJ Goldie, selbst gemischter ethnischer Herkunft, den Preis. In ihrer Dankesrede in der Ferens Art Gallery betonte Himid, sie verstehe dies als Auszeichnung "für jeden Versuch, sich ein bisschen weiter aus dem Fenster zu lehnen, für all die Anläufe und all das Scheitern, für die, die mittlerweile gestorben sind - und für alle schwarzen Frauen, die nominiert waren, aber nie gewonnen haben".

Himid ist eine dezidiert postkoloniale Künstlerin. Sie befasst sich mit dem Einfluss, den Einwanderer auf die Kulturen ausüben, deren Teil sie geworden sind. In der Turner-Preis-Ausstellung sind Arbeiten aus vier Jahrzehnten, von Mitte der Achtzigerjahre bis heute, zu sehen. Ein Paradebeispiel für die mühelose Überblendung verschiedener Epochen und Stile ist zugleich die größte Installation in Hull: Ein eng bestelltes Bühnenbild mit lebensgroßen Figuren aus dem Jahr 1987, inspiriert von Hogarths satirischer Reihe "Marriage à la Mode" - mit Maggie Thatcher und Ronald Reagan als zentralem Liebespaar.

In diesem Jahr gab es bei der Nominierung erstmals keine Altersbeschränkung

In der "Negative Positives"- Reihe hat Himid Zeitungsseiten partiell übermalt, um damit den Blick auf die klischeehafte, oft kryptorassistische Darstellung schwarzer Sportler zu lenken. Didier Drogba, der bei einem Fußballspiel die Hände in einer Brillen-Geste um sein Gesicht legt, ist umgeben von Augenpaaren, die aus dem Dunklen starren: Er wird zum Darsteller in einer Art Blackface-Minstrel-Show. Drei Rugby-spieler, die alle aus der samoanischen Tuilagi-Familie stammen, sind unter der Überschrift "Was hat sechs Arme, sechs Beine, und wiegt 340 Kilo?" abgebildet. Himid hat in großen Lettern "Breed Apart" daruntergeschrieben - eine Rasse für sich. Die vermeintliche Harmlosigkeit solcher Präsentation als potenziell sinister zu entlarven, und das durchaus humorvoll, ist Lubaina Himids große Stärke.

Dass die Preisträgerin und Hurvin Anderson mit jeweils 63 und 52 Jahren übrigens für den Preis infrage kamen, lag an einer hochwillkommenen Regeländerung, die 2017 erstmals griff: Bisher konnten nur Künstler bis zur Vollendung des 50. Lebensjahres nominiert werden. In diesem Jahr gab es erstmals keine Altersbeschränkung. Die Idee, "junge Künstler" fördern zu wollen, war immer wieder dadurch ad absurdum geführt worden, dass oft jene nominiert wurden, die sich gefährlich der Altersgrenze näherten und später nicht mehr infrage gekommen wären. Das wirkte wettbewerbsverzerrend. Nun konnte die Jury sich voll und ganz auf die nominierten Arbeiten konzentrieren. Sie hat in Lubaina Himid fraglos die richtige Wahl getroffen.

© SZ vom 07.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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