Süddeutsche Zeitung

Turiner Buchmesse:Die Wunder Italiens und die Krise Europas

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Beim "Salone del Libro" in Turin war Deutschland zu Gast. Gesprochen wurde eher über die aktuelle Finanzkrise als über die Italiensehnsucht der Deutschen.

Von THOMAS STEINFELD

Auf dem prächtigen Stand, den das Goethe-Institut, die Frankfurter Buchmesse und einige deutsche Verlage auf der Buchmesse in Turin gemeinsam betrieben, gehörte dem Wagenbach-Verlag ein besonderer Platz: Zwei Klapptafeln und eine Vitrine rekapitulierten die fünfzig Jahre dieses Hauses, das mehr als alle anderen deutschen Verlage mit der Geschichte Italiens verbunden ist. Der Manierist Giorgio Manganelli, der hundert Romane in nur einem Buch unterbrachte, gehörte zu Klaus Wagenbachs ersten Autoren, von den "Freibeuterschriften" Pier Paolo Pasolinis wurden in den späten Siebzigern fast hunderttausend Exemplare verkauft, und von der Ausgabe der Schriften Giorgio Vasaris erscheint im Herbst der fünfundvierzigste und letzte Band. Unten auf der ersten Klapptafel wurde daran erinnert, dass Klaus Wagenbach einst mit dem Verleger Giangiacomo Feltrinelli befreundet war. Als dieser im Jahr 1972 unter nie geklärten Umständen ums Leben gekommen war, hielt er die Grabrede, weil nur zwei seiner italienischen Kollegen auf den von Panzern umstellten Mailänder Zentralfriedhof gekommen waren.

In der Halle daneben prunkt nun groß, rot und unübersehbar der Stand eben jenes Verlages Feltrinelli. Er feiert das sechzigste Jahr seit seiner Gründung mit einer Kampagne, in der der Buchstabe "F" die zwölf Themen setzt: "F" wie "Forma" (für die Erfindung des italienischen Taschenbuchs), "Fiesta" (für die großen freundlichen Ereignisse in der Geschichte des Verlags) oder "Fierezza" für den Stolz, mit dem der Verlag durch die Skandale und Prozesse seiner Geschichte gehen will, wie zuletzt durch das Verfahren gegen den neapolitanischen Schriftsteller Erri De Luca, der 2013 in einem Protest gegen den Bau einer Eisenbahn-Schnellstrecke durch das Susatal zur Sabotage geraten hatte.

Zwölf solcher "F"s aus rotem Sperrholz sind über die Messe verteilt und erzählen eine kleine Geschichte des italienischen Verlagswesens seit den Sechzigern. Es mag sein, sagte die Verlegerin Inge Feltrinelli dem Corriere della Sera, dass das Goldene Zeitalter des Verlegens vorüber sei - wenn es denn ein solches je gegeben hätte. Mit "Fierezza" ist deswegen auch die Unabhängigkeit des Hauses Feltrinelli in einer Zeit gemeint, in der die Verlagsgruppe RCS vom Konkurrenten Mondadori - der Silvio Berlusconi gehört - übernommen zu werden droht, worauf dann knapp die Hälfte des italienischen Verlagswesens in einer Hand vereint wäre.

Die Bindungskraft der alten Geschichten nimmt ab, und neue entstehen nicht so leicht

Pier Paolo Pasolini, Natalia Ginzburg oder Umberto Eco: Das sind alte Geschichten, die man immer wieder erzählen kann, so wie der Schriftsteller Claudio Magris in seiner "Lectio Magistralis" noch einmal von der Liebe der italienischen Gelehrten zu Deutschland erzählte, vom großen liberalen Philosophen Benedetto Croce und dessen später Anhängerschaft zu Hegel vor allem. Doch nimmt die Bindungskraft der alten Geschichten deutlich ab, und neue Geschichten entstehen nur selten und in kleinerem Format. Zum Programm von Feltrinelli gehört heute Wolfgang Streeck, dessen Buch "Gekaufte Zeit" zwar schon vor zwei Jahren auf Italienisch erschien, der aber nach wie vor die Runde macht, als Mahner vor der unkontrollierten Macht der Finanzmärkte, als Anwalt für ein Wiedererstarken des Nationalstaats, als Prophet eines "Desasters", das der bürgerlichen, demokratischen Gesellschaft durch das entfesselte Kapital bereitet werde. Und wenn das italienische Publikum für solche Kritik zwar Sympathien hegte, wurde es ihm doch schnell zu "radikal" - so die Volkswirtin Lucrezia Reichlin, die Italien dagegen als das Land der "Vermittlung" empfahl. Da lachte Wolfgang Streeck und meinte, er sei früher Sozialdemokrat gewesen und könne sich gut an die Sympathien vieler Italiener für den Kommunismus erinnern.

Der Germanist Luigi Reitani antwortete in seinem Gespräch mit Streeck dem Schrecken der Finanzkrise mit dem geballten Bildungsfuror des deutschen Idealismus, die Hegel'sche Dialektik eingeschlossen. Nicht um Widerstand geht es in dem Pathos der Kultur, das Reitani beschwor, sondern um die Teilhabe an derselben intellektuellen Geschichte, auf der Höhe vergangener Errungenschaften. Der gelassene Pragmatismus eines großen Bruders, mit dem der Börsenverein des Deutschen Buchhandels in Turin auftrat, entsprach diesem Verlangen nach Gemeinsamkeit daher weitaus mehr als die Suche nach Bundesgenossen im Kampf gegen - nun wen, gegen die Banken, das Kapital, die "marktkonforme Demokratie" (Angela Merkel)? Die Welt der Bücher, in der solche Dinge verhandelt werden, und gar über Nationengrenzen hinweg, ist ohnehin nicht groß, weder in Italien noch in Deutschland.

Giovanni di Lorenzo lobte die Mailänder Weltausstellung auf Kosten des Berliner Flughafens

Vermutlich war deshalb die Genugtuung so stark, die Moshe Kahns Übersetzung des Romans "Horcynus Orca" von Stefano D'Arrigo galt, die im März auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse stand. Dass es diese Übersetzung überhaupt gibt, dass noch einmal ein italienischer Roman (auch wenn das Original schon im Jahr 1975 erschien) ein solches Interesse auf sich ziehen kann: Die Freude darüber begleitete den Messeauftritt des Übersetzers Moshe Kahn, so, wie das Kopfschütteln die Erinnerung an die Rede des Zeit-Chefredakteurs Giovanni di Lorenzo am Vorabend der Messe begleitete. Er hatte sich - wenig diplomatisch - bei der (nicht beantworteten) Frage aufgehalten, warum Silvio Berlusconi zwanzig Jahre lang die italienische Politik hatte beherrschen können, und war zu dem Schluss gelangt, der neue Berliner Flughafen sei noch Jahre nach dem ursprünglichen Datum der Eröffnung nicht fertig, die Mailänder Weltausstellung aber am ersten Tag begehbar. Das veranlasste zwar den Corriere della Sera zu einer Schlagzeile, im Sinne von: berühmter deutscher Journalist lobt Italien, aber ein solcher Vergleich der Nationen (hier gut, da schlecht) macht nicht klüger. Er nährt stattdessen das Ressentiment.

Das gilt auch für den Vergleich einer Nation mit sich selbst. Wenn die Turiner Buchmesse sich das Thema "Die Wunder Italiens" setzt, denkt sie zwar zum Beispiel an den 750. Geburtstag Dantes, der in dieses Frühjahr fällt und einen Messeschwerpunkt bildet. Aber sie muss auch mit einer Antwort wie der von Roberto Saviano rechnen: Es sei in Italien in den vergangenen Jahren nicht besser geworden, allen Bekenntnisse zur "Reform" zum Trotz, sagte der wohl berühmteste Gast der Buchmesse, und es werde auch nicht besser werden.

Nicht besser werden die Umsätze des italienischen Buchhandels. Sie gehen seit Beginn der Finanzkrise vor sieben Jahren deutlich zurück, das Bücherlesen ist, einer in Italien berühmt gewordenen Statistik zu folge, eine im internationalen Vergleich wenig beliebte Tätigkeit. Es mag aber auch sein, dass die Vorstellung einer "Wahrheit", wie sie Roberto Saviano und Günter Wallraff in ihrem Dialog entfalteten - einer Wahrheit, die groß und mächtig jenseits aller Verderbnis leuchten müsste - letztlich selbst ein "Wunder" wäre.

Zwei Dutzend deutscher Autoren waren nach Turin geladen, die meisten von ihnen - wie Lutz Seiler, Daniel Kehlmann, Katja Petrowskaja, Jan Assmann, Volker Weidermann - mit neuen Büchern, und wenn sie überaus freundlich aufgenommen wurden, dann lag das eher an schwachen als an starken Begriffen von Wahrheit. Das galt auch für Peter Sloterdijk, der weit ausholte, bis ins fünf Jahrhundert vor Christus, um dem staunenden Publikum nahezulegen, dass es die Sphäre des analytischen Denkens verlassen und in die der "komplexen Ganzheiten" zurückgekehrt sei, vermutlich mit all der Verwirrung, die ein solcher Übergang mit sich bringen muss. Die schwarzen Schmuckpfeiler des deutschen Standes auf der Turiner Buchmesse waren mit Autorensätzen beschriftet. "Per me la meraviglia dell' Italia è che . . ." lautete der Satz Markus Gabriels, "für mich ist das Wunder Italiens, dass . . ." Was hätte er Besseres sagen sollen?

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SZ vom 18.05.2015
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