"Turandot" an der Berliner Staatsoper:Die Prinzessin als Marionette

"Turandot" an der Berliner Staatsoper: Eine Riesenpuppe birgt die Prinzessin Turandot - und schafft so Distanz zu dieser Figur.

Eine Riesenpuppe birgt die Prinzessin Turandot - und schafft so Distanz zu dieser Figur.

(Foto: Matthias Baus)

Philipp Stölzl inszeniert, Zubin Mehta dirigiert: Berliner Staatsoper begeistert mit Puccinis "Turandot".

Von Wolfgang Schreiber

Eine faszinierend abstoßende Riesenpuppe beherrscht die Bühne. Ragt im pechschwarzen Reifrock in die Höhe, diszipliniert das "Volk von Peking", die vor Angstlust tobende, singende Menschenmasse der alten Kaiserstadt im brutalen Despotismus. Die Marionette birgt die noch unsichtbare Prinzessin Turandot, die ihre Freier planmäßig in den Tod schickt. Mythos einer Rachegöttin? Das Geheimnis steckt in ihren drei Rätselfragen: Wenn der Bewerber sie nicht beantworten kann, wird er geköpft. Der persische Prinz Calaf taucht auf und will sein Leben für Turandots Liebe riskieren.

Die Berliner Staatsoper bietet dafür eine intelligente Perspektive, anders gesagt: Der Grenzgänger inszeniert die Grenzgängerin, Philipp Stölzl die eiskalte Prinzessin, grausige Femme fatale der letzten Oper Giacomo Puccinis. Der Opernregisseur, der neben Spielfilmen berühmt gewordene Musikvideos (Madonna, Rammstein, Mick Jagger) und Werbespots gedreht hat, ist ein hellsichtiger Detektiv, er nennt Puccinis unvollendete Oper, nach dem gleichnamigen Theaterstück des Italieners Carlo Gozzi von 1762, "eine Art surreales Oratorium". Schnell hatte er herausgefunden: "Keine der Figuren hat psychologische Tiefe im klassischen Sinn." Also im Sinn der früheren Opern Puccinis, des Seelendichters der Manon, Tosca und Mimi.

Ursprünglich war Anna Netrebko als Turandot engagiert worden. Nun singt die Russin Elena Pankratova

Zubin Mehta am Pult der Staatskapelle kann auch als 86-Jähriger mit ruhiger Hand und wachem Geist Puccinis exotische Klanggespinste und melodische Mixturen aus Fernost schillern, die Chorgewalt (Martin Wright) bei allem Feinschliff fast barbarisch dröhnen lassen. Mehta, der erfahrenste aller Turandot-Dirigenten, hat die Oper vor Jahrzehnten am "Originalschauplatz" dirigiert, in Peking. Und seine Londoner Aufnahme ging durch die sagenhafte Sängerbesetzung in die Historie ein - mit Joan Sutherland und Montserrat Caballé, mit Luciano Pavarotti und Nicolai Ghiaurov. Tempi passati?

Anna Netrebko war für Turandot, die Heroine mit dem Sopranfeuer aus Stahl, engagiert worden. Sie hat (oder wurde) abgesagt, erhalten geblieben ist Ehemann Yusif Eyvazof als todesmutiger Calaf. Er löst, unter Turandots Empörung, das Rätsel, stattet die Rolle und seine einzige Arie, das legendäre Tenorfanal "Nessun dorma" im dritten Akt, mehr mit aufgerauter Glut als mit Glanz aus. Und statt Netrebko bietet die Russin Elena Pankratova das Exempel ekstatischer Kraftentfaltung. Ihre Gegenspielerin in Weiblichkeit ist die seelenstarke Liù der mit Hingabe vergebens liebenden Aida Garifullina. René Pape gewinnt als Calaf-Vater Timur, Siegfried Jerusalem, der alte Tristan-Held, jetzt überfordert, verliert als Chinas Kaiser Altoum. Das Ensemble beeindruckt musikalisch wie mimisch.

"Das überholte Frauenbild ist ja überhaupt ein Grundproblem der Oper heute", sagt Philipp Stölzl

Dass Philipp Stölzl, Jahrgang 1967, den modernen Opernregisseur als Kritiker des überkommenen Musiktheaters verkörpert, kommt der Turandot-Interpretation zugute. Denn er sieht in dem Stück hauptsächlich die symbolistische Existenz der Figuren. Durch die Marionette, eine Sphinx, "unsere zentrale Metapher", gewinnt er die Distanz zu Turandot, der toxischen Männerfantasie einer Fusion von Liebe und Tod. Stölzl will sie eliminieren und sagt: "Das überholte Frauenbild ist ja überhaupt ein Grundproblem der Oper heute" - Gilda, Violetta e tutte quante.

Die Theaterpuppe, von einem Dutzend Technikern sichtbar an Schnüren gezogen, wird Sinnbild der Selbstzerstörung, sie zeigt sich, wenn die Krinoline abfällt, mit zerschmetterten Gliedmaßen als Gerippe. Aber Stölzl mag auch seinen Drang nach Effekten - mit dem bühnendrastischen Chorgewühl, der Fülle greller Farben und Gesten von Chinas rüder Staatsmacht. Natürlich kann er mit der illusorischen Liebe am Ende nichts anfangen. Bei ihm darf Turandot in der von lauter Musik schallenden Umarmung mit Calaf nicht überleben, sie muss fallen.

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