"Tully" in der SZ Cinemathek:Im Sog des Windeltwisters
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Junge Mütter sind in Hollywood meist glückliche Überwesen. Die Tragikomödie "Tully" konzentriert sich auf die seltener gezeigten Seiten der Weiblichkeit. Und rückt damit näher an die Wahrheit ran.
Von Tobias Kniebe
Recht früh, gleich nach der Einführung, kommt hier ein Stück großes Filmschaffen. Eine Montage ganz ohne Worte, zweieinhalb Minuten lang, dazu ein sehnsuchtsvoll melancholischer Song von Rufus Wainwright. Man könnte diese Sequenz eine Symphonie der Mutterschaft nennen. Sie wird ihren Platz im Kanon des Kinos finden, wo Mütter längst nicht in allen Facetten repräsentiert sind.
Es beginnt im Dunkeln, mit Babyschreien. Eine Nachttischlampe geht an. Die Mutter quält sich aus dem Bett. Eine Windel wird angelegt, das Baby schreit weiter. Die Windel kommt in den Abfalleimer, ein Windeltwister, der rituell gedreht wird. Das Kind kommt an die Brust, das Schreien hört auf. Morgenlicht im Fenster, die Mutter ist auf dem Sessel eingeschlafen, mit Baby im Arm, komatös. Der Vater küsst sie vorsichtig auf die Stirn, auf dem Weg zur Arbeit, das Baby schaut neugierig und wach.
Hier kurz der Einschub, dass dies eine normale amerikanische Familie ist, also eine Familie unter Druck. Der Regisseur Jason Reitman und sein Schnittmeister Stefan Grube haben sie uns vorgestellt, in den zwanzig Minuten zuvor, am Anfang ihres Films "Tully". Zwei Kinder gab es schon, das dritte ist nun zur Welt gekommen. Der Vater ist ein liebender Ehemann, der um eine Gehaltserhöhung kämpft, die für die Familienfinanzen wichtig ist. Der achtjährige Sohn, ein süßer Kerl, ist "special", wie seine Lehrer sagen. Er kriegt obsessiv-kompulsive Tobsuchtsanfälle, wenn die Mutter zum Beispiel nicht jeden Tag auf demselben Schulparkplatz parkt.
Aber weiter im Fluss der Montage. Wieder Nacht, wieder Brüllen. Das Babyfon flackert rot im Dunkeln. Die Mutter erwacht, greift danach, es rumpelt zu Boden. Licht an, Brüllen, Wickeltisch, Windeltwister, Weiterbrüllen, Rückenklopfen. Die Mutter, wie tot auf dem Sofa im Morgenlicht, die älteren Kinder toben um sie herum. Abend, Mutter mit Milchpumpen an beiden Brüsten. Nacht, Brüllen, Licht an, Wickeltisch, Weiterbrüllen, Mutter mit Baby wippend auf Medizinball, dann Schlaf, Vaterkuss auf dem Weg zur Arbeit. Wieder Nacht, draußen schlafende Vorstadt, Brüllen, Licht im Fenster. Windeltwister, Milchbeutel. Baby im Tragekorb auf dem rumpelnden Wäschetrockner, Mutter, die es festhält, droht einzuschlafen.
Die Autorin begann ihre Karriere als feministische Stripperin und schrieb über diese Zeit ein Buch
Und so fort, das Tempo zieht an, Tag, Nacht, Brüllen, Windeln, Säugen, Koma. Jetzt geht es um die Abweichungen, die kleinen Eskalationen. Baby schläft, todmüder Mutter fällt das Telefon aus der Hand, es fällt auf das Baby, das Brüllen geht wieder los. Mutter, schmerzverzerrt, cremt Brustwarzen ein. Mutter, Baby im Arm, tritt auf Legostein. Mutter zieht den Folienschlauch des Windeltwisters hinter sich her, wie eine riesige Perlenkette. Mutter greift sich schmutziges T-Shirt aus überquellendem Wäschekorb, zieht es sich über, offenbart dabei ihren Bauchspeck.
Wichtig, spätestens hier, ein weiterer Einschub - wer die Mutter spielt. Es ist die sonst gern so goldglitzernde Chanel- und Chopard-Botschafterin Charlize Theron, die im Kino als Action-Amazone Millionen verdient, sich aber auch mit Leidenschaft in ganz andere Wesen transformiert. Zum ersten Mal im Jahr 2003 für "Monster", wo sie eine Serienkillerin war und einen Oscar gewann. Ihre postnatalen Speckringe in "Tully" sind echt und realistisch und sorgsam angefuttert. Unangenehme Wahrheiten scheut hier niemand.
Was sich besonders im furiosen Finale dieser Mütter-Symphonie dann zeigt. Tag, Nacht, Licht an, Licht aus, nun im Sekundentakt. Die Mutter, breitbeinig im Sessel, Augenringe wie ein Waschbär, leerer Blick aufs Kinderfernsehen. Frischgezapfter Milchbeutel fällt um, Milch läuft überall hin, Mutter flucht. Gefährlich schwankt die Nagelschere über den zarten Fingern des Babys. Brüllen, Nichtbrüllen, Windeltwister, Rückenklopfer, Vaterkuss, Babyfon, Pumpenknopf, Koma. Rufus Wainwright lässt seine Stimme melancholisch ausklingen, aahhaaa, uuuuooo. Ockerfarbenes Ekelzeug klebt an der Wand. Rötlichbraunes Ekelzeug klebt im Teppich. Gelbes Ekelzeug bedeckt T-Shirt. Und Cut.
Das ist, mit einem weiblichen Superstar, im Mainstreamkino, schon was Besonderes. Das darf auch mal im Detail gefeiert werden. Sonst nämlich gibt sich Hollywood eher propagandistisch, ideologisch dem Überleben der Menschheit verpflichtet; feiert das Glück des Kinderkriegens, blendet die Speckringe und die Ekelflecken aber lieber aus. Und obwohl die beiden Filmhandwerker hinter dieser Sequenz Männer sein dürfen - ihr Schöpfer ist eine Frau. Eine dreifache Mutter, um genau zu sein. Die seltener gezeigten Seiten der Weiblichkeit, das war schon immer das Thema der Schriftstellerin und Drehbuchautorin Diablo Cody.
Schon ihr Künstlername zeugt von dem Vergnügen, mit Konventionen zu brechen, man könnte es diabolisch nennen. Alles begann, als sie über ihr Leben als feministische Stripperin in der Sexwelt bloggte und ein Buch darüber schrieb. Mit "Juno", einem ungewöhnlich klaren Blick auf eine Teenager-Schwangerschaft, fand sie ihre Stimme in Hollywood, ihren Mitverschwörer Jason Reitman - und gewann einen Oscar. In "Young Adult" stieß Charlize Theron zu den beiden, es ging um das Verlorensein der Thirtysomething-Frauen zwischen Karriere und Familienwunsch. 2015, Cody war gerade zum dritten Mal Mutter geworden, das Neugeborene plärrte nebenan, schuldete sie dem Studio das nächste Script. So entstand schließlich "Tully".
Die Nanny sorgt für Entspannung, hat aber ein verblüffendes Geheimnis
Im ersten Teil geht es um den langen Weg bis zum Eingeständnis der eigenen Überforderung. Einen Weg, den viele Mütter nicht gehen können, auch wenn sie die Überforderung fühlen, und der auch Diablo Cody nicht leicht fiel. Im Film steht dafür die Weigerung der Hauptfigur Marlo (Theron), eine Nacht-Nanny anzustellen, obwohl ihr reicher Bruder dafür bezahlen würde. Schließlich aber willigt Marlo ein. Also steht eines Abends die 22-jährige Tully vor der Tür, und der Film nimmt eine magische Wendung. Tully (Mackenzie Davis) erscheint im abgeschnittenen Top, als wolle sie mit ihrem nackten, makellos flachen Bauch protzen. Das lässt alle möglichen Verdachtsmomente aufflackern, von Inkompetenz über jugendliche Arroganz bis hin zu Körperfaschismus. Sie entpuppt sich dann aber als alte, tiefenentspannte, leicht hippieske Seele, und in ihren Armen ist es nun das Baby, das quasi auf Anhieb ins Koma fällt. Marlo schläft durch und fühlt sich so gut wie lange nicht mehr; am Morgen sind nicht nur alle Flecken weg und alle Legosteine aufgeräumt, sondern auch noch Cupcakes gebacken.
Das wirkt nun ungefähr so sagenhaft wie die alte Geschichte von den Heinzelmännchen. Man wartet auf die Enthüllung, was mit Tully womöglich nicht stimmt. Ist sie das Klischeekindermädchen des misogynen Horrorfilms, das sich zuckersüß in intakte Familien einschleicht, dann aber Verwüstung anrichtet? Nein, ist sie nicht. Dafür werden die beiden Frauen immer entspannter, erzählen sich Sexgeheimnisse und intime Details, immer öfter denkt Marlo an ihre eigene Jugend, ein Abenteuergeist, lang verschüttetet, erwacht in ihr. Und doch - natürlich hat Tully ein verblüffendes Geheimnis.
Dieses Geheimnis auch nur anzudeuten, wäre allerdings Hochverrat, nicht nur am Prinzip der weiblichen Solidarität. Es reicht zu sagen, dass es brillant erdacht ist, Diablo Codys bisher genialster Streich: überraschend und zwingend zugleich, dazu noch wahr. Frauen, ob Mütter oder nicht, könnten in diesem Moment sehr viel von sich wiedererkennen. Und die Männer, die hier einfach mal Männer sein dürfen, liebend zwar, aber weder Helden noch Hauptfiguren? Die erfahren hier erstens, dass sich das Universum nicht immer um sie dreht. Und zweitens Dinge über Frauen, von denen sie nicht mal ahnten, dass sie sie immer schon wissen wollten.
Tully , USA 2018 - Regie: Jason Reitman. Buch: Diablo Cody. Kamera: Eric Steelberg. Schnitt: Stefan Grube. Mit Charlize Theron, Mackenzie Davis, Mark Duplass, Ron Livingston. Verleih: DCM, 96 Minuten.