Süddeutsche Zeitung

Türkisches Tagebuch (XXIII):Es ist Zeit aufzuwachen

Von der Demokratie sind wir in der Türkei so weit entfernt wie nie zuvor. Hoffentlich merkt die Mittelschicht bald, dass sie betrogen worden ist.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Viele türkische Künstler, Journalisten und Intellektuelle befinden sich in einem Dilemma, das durch die lauten Schlachtrufe der AKP, die Demokratie hätte gesiegt, nicht einfacher wird. Soll man dieser gewählten Partei grundsätzlich die Gefolgschaft verweigern, so wie es einige Vertreter der akademischen Linken getan haben? Oder ist man besser damit beraten, zumindest den Versuch der AKP zu würdigen, den Islam und die Demokratie miteinander auszusöhnen?

Türkisches Tagebuch

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt er einen täglichen Gastbeitrag. Deutsch von Jörg Häntzschel.

Viele von uns finden, es gebe keine moralische Grundlage, sich dem Kurs der AKP völlig zu verweigern. Sehr viele Menschen haben diese Partei gewählt, was unter linken wie rechten Intellektuellen zu dem Konsens geführt hat, Erdoğan & Co zumindest eine Chance zu geben, bevor man sich gegen sie stellt.

Leider mussten wir in den letzten Jahren beobachten, dass dieses Zugeständnis vollkommen nutzlos war. Von der Demokratie sind wir so weit entfernt wie nie zuvor. Die intellektuelle Elite hat eine herbe Niederlage einstecken müssen. Bleibt nur zu hoffen, dass diese zumindest als Weckruf für die säkulare Mittelklasse dient. Hoffentlich wird die große Mehrheit, die immer noch hinter Erdoğans Alleingang steht, bald aufwachen. Die Frage ist: Wird die Demokratie als Sieger aus dem blutigen Chaos vom 15. Juli hervorgehen - oder ein einzelner Politiker? Mit den unbegreiflichen Massenverhaftungen und den vielen Neubesetzungen wichtiger Posten wird der Mittelschicht hoffentlich endlich klar, dass sie betrogen worden ist.

"Ich habe nur gesagt, was ich denke"

Das zeigt auch das Beispiel der enorm populären Sängerin Sıla. Die 35-Jährige hat sich geweigert, an einer Parteikundgebung letzten Samstag in Istanbul teilzunehmen. Sie bezeichnete die Veranstaltung als "reine Show". Wegen dieser Äußerung wird jetzt eine regelrechte Hexenjagd auf sie veranstaltet. Sie wurde zum "Staatsfeind" erklärt, Konzerte wurden verboten, "besorgte Bürger" haben sie angezeigt. Die Sängerin ist erschüttert: "Ich habe nur gesagt, was ich denke. Demokratie bedeutet für mich Respekt vor Andersdenkenden."

Merkt euch diesen Vorfall, er bedeutet nichts Gutes für die Türkei. Der einfache Bürger mag es sich vorerst leisten können, weiter seinem normalen Leben nachzugehen. Aber irgendwann werden die Menschen merken, dass ihr Land keine Stabilität mehr findet, weil sich zu wenige Menschen politisch engagieren. Und die, die es tun, werden längst in andere Länder geflohen sein.

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Quelle:
SZ vom 13.08.2016/cag
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